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Rolf Todesco

Der Dialog im Dialog


 
 


 

Inhalt

Vorwort
Einladungen
Ein Anfang
Fragen im Dialog
Die Veranstaltung
Verheissungen
Wahrheit und Konflikt
Kommunikation
Dialog als Kunst

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Vorwort

Mit Dialog im Dialog lege ich einige Berichte von inszenierten Dialogen vor. Inszeniert werden solche Dialoge in Form von Veranstaltungen, in welchen durch Protokolle darüber, wie man spricht, verhindert, dass der Gesprächsgegenstand die Führung darüber übernimmt, was man spricht. Die Protokolle, die die Gesprächsform festlegen, sollen verhindern, dass die Sprechenden zu Subjekten verkommen, die der jeweils verhandelten Sache, etwa durch monierte Sachlichkeit, unterworfen sind. Die Protokolle verlangen vordergründig, dass die Formulierungen eine bestimmte Form einhalten, so dass ich jedesmal bevor ich spreche, noch etwas über die Formulierung nachdenken muss. So bleibe ich stets Gewahr, dass ich spreche und dass ich, das, was ich sage, auf verschiedenen Weisen sagen kann, wodurch ich Verschiedenes sage. Ich treffe eine Wahl, bedenke also, was ich mit dem, was ich sage, aneignen will.

Solche Dialogveranstaltungen kann man als Fortsetzung der Konversationssalons des sich darin auflösenden Mittelalters sehen. In der kultivierten Salonkonversation liegt die Aufmerksamkeit immer darauf, dass keine Tatsachen entstehen, obwohl oder gerade weil in diesen Salons immer die Zeit nach der nächsten Revolution antizipiert wird, die Utopie, die erst erwogen wird, die man erkennen, aber nicht kennen kann. Die in den Dialogveranstaltungen verwendeten Protokolle stammen aber nicht aus den aristokratisch-frühbürgerlichen Salons, sondern werden im Dialog selbst so entwickelt, dass das jeweilige Dialogverständnis seinen jeweils aktuell festgelegten Ausdruck findet. Im Protokoll ist die Differenz zwischen Präskription und Deskription aufgehoben, anhand des Protokolls kann man erkennen, woran sich die Dialogrunde halten wollte.

Die hier protokollierten Dialoge stammen von Dialoggemeinschaften, die sich nicht zufällig im Park oder am Stammtisch zu einem zufälligen Geschwätz treffen, sondern eigens in Veranstaltungen zusammenkommen, um im Dialog über den Dialog nachzudenken und dialogische Haltungen zu erkunden. In jüngerer Zeit hat David Bohm solche Dialog-Veranstaltungen populär gemacht und in seinem Buch Der Dialog reflektiert. Für unsere Dialog-Veranstaltungen hat er damit eine Art praktiziertes Vorbild geschaffen. Er zeigte exemplarisch, wie man im Dialog dialogisch und effektiv über den Dialog nachdenken kann. Er bezeichnete diese Praxis als partizipierendes Denken. Man kann aber auch einfach von Partizipieren, Zusammenarbeiten oder Kommunizieren sprechen, wenn man das Denken in zwischenmenschlichen oder sozialen Beziehungen nicht so herausstellen will. Bezeichnungen wie Denken und Arbeiten verführen überdies leicht dazu, eine Art Nützlichkeit, eine Funktion oder einen Zweck zu suchen und den Dialog so zum Mittel zu machen. In unseren Dialog-Veranstaltungen geht es aber um den Dialog, nicht um einen Zweck, zu welchem der Dialog als Verfahren oder als Methode zu begreifen wäre. Wir praktizieren den Dialog, wir verwenden ihn nicht und wenden ihn nicht an. Es geht in diesen Dialogen nicht um eine Sache, sondern um Beziehungen, die wir zu Sachen, zu Mitmenschen und zum Leben haben.


 
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Im so verstandnenen Dialog finden unsere Beziehungen ihren Ausdruck dia logos; dia logos heisst durch das Wort. Im Dialog unterscheiden wir ich und du, damit wir die Beziehung, die Art, wie wir in der Einheit einer umfassenden dialogischen Kultur zusammen gehören, zur Sprache bringen können. Indem wir die analytische Differenz eines Ichs erzeugen, können wir über die Einheit in Form von Beziehungen zwischen Ich und Du sprechen. Die in diesem Dialog gemeinten Beziehungen zwischen ich und du sind wechselseitig, sie werden in dialektischer Rede entfaltet, eben im Dialog. Im Dialog höre ich, wie ich diese Beziehungen auch sehen könnte, weil andere sie so sehen. Im Dialog beobachte ich Unterscheidungen, die zu verschiedenen Vorstellungen führen. Viele dieser Unterscheidungen sind kulturell in dem Sinne fundamental, als sie innerhalb der Kultur kaum wahrgenommen werden. Im Dialog machen wir solche Unterscheidungen dia logos explizit und ermöglichen uns damit gewählte Vielfalt. Ich spreche im folgenden exemplarisch einige dieser Unterscheidungen an, die mein in unseren Veranstaltungen entwickeltes Dialogverständnis selbst betreffen.

Zum einen erkenne ich, dass ich in meinem Alltag in zwei verschiedenen Dialogkulturen lebe, die man etwas plakativ als jüdisch-gemeinschaftlich und griechisch-wissenschaftlich bezeichnen könnte. Die "griechischen" Dialoge von Sokrates, die Galileo Galilei wieder aufgenommen hat, widerspiegeln sich in unserer wissenschaftlich orientierten Ausbildungen, insbesondere in der Didaktik. Es geht dabei darum, Wissen mitzuteilen und sicherzustellen, dass alle dasselbe, das möglichst Richtigste wissen. Galileo Galilei hat dafür den Ausdruck Diskurs verwendet, weil er sich der scheidenden und entscheidenden Praxis bewusst war. Den religiösen Dialog dagegen erkenne ich als Gespräch, das wie ein Gebet an das Du gerichtet ist. Es geht mir in diesem Dialog darum, mich selbst in eine Beziehung zur Welt zu setzen, während ich die Wissenschaft gerade unabhängig von mir zu denken habe. Martin Buber bezeichnet diese Unterscheidung durch zwei verschiedene Ich-Formen, ein Ich-Es und ein Ich-Du. Das Ich-Es spricht - schliesslich wissenschaftlich - über die Welt, das Ich-Du spricht mit der Welt. Franz von Assisi sprach mit den Vögeln, nicht über die Vögel. In unseren Dialogveranstaltungen lavieren wir oft zwischen diesen Kulturen. Unser Dialog erscheint als Differenz zwischen Dialog und Diskurs, so dass diese Differenz erfahrbar wird.

Eine andere manifeste Differenz besteht zwischen Dialogen und Dialog-Veranstaltungen. Die Dialog-Veranstaltung ist als Uebung konzipiert. Ich übe aber in der Dialog-Veranstaltung nicht für einen späteren Zeitpunkt, für einen Auftritt oder für einen Ernstfall, ich übe im Sinne des Ausübens. Die Uebung zeigt sich darin, dass wir uns ein Protokoll geben, während Dialoge natürlich gerade keine Regeln haben, die jemand einhalten müsste. Ein grosser Teil der Reflexionen in unseren Dialogen betrifft den Sinn und die Interpretation dieses Protokolls. Weil die Regeln nicht von aussen kommen, sondern in den Dialoggruppen selbst hervorgebracht werden, ist die Reflexion der Regeln immer auch eine Reflexion des mitgebrachten Verständnisses. Und weil leicht zu erkennen ist, dass die Regeln nicht das Wesen des Dialoges betreffen, sondern Werkzeuge der Uebung sind, herrscht in den Dialogveranstaltungen zu diesen Regeln immer ein ambivalentes Verhältnis mit einem beträchtlichen Frustrationspotential, das wohl jedes geregelte Ueben begleitet.


 
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Eine daran anschliessende Differenz besteht zwischen Regeln als Gebot und Regeln als Vision. Unsere Dialogregeln sind keine Vorschriften, die jemand einhalten müsste. Das würde nicht nur dem Dialog prinzipiell widersprechen, sondern auch einer Veranstaltung, deren Sinn auch im Ausloten von Regeln liegt. Die Regeln müssen nur in einem bestimmten Sinn eingehalten werden, sie müssen als solche aufrecht erhalten werden, gleichgültig wie oft sie auf welche Weise verletzt werden. Die Regelverletzungen müssen als Ausnahmen wahrgenommen werden können, oder wo das nicht mehr gelingt, als Antrag, die Regeln zu ändern. Regelverletzungen werden in keiner Weise geahndet, sie werden als Anlass genommen, die Regel zu bedenken. Die Regeln beschreiben als Vision, wie ich sprechen möchte, wie ich sprechen werde, wenn ich dialogisch entwickelt bin. Wenn ich die Einträge auf den Steintafeln von Moses als solche Regeln lese, lese ich nicht, Du sollst nicht lügen, rauben und töten, sondern die Verheissung, Du wirst nicht lügen, rauben und töten, wenn du ein Mensch geworden bist. Das Protokoll beschreibt die Zukunft, sozusagen für die Gegenwart.

Schliesslich erkenne ich in den Dialogbeiträgen oft eine Differenz zwischen dem ich und dem wir. Wo wir gemeinsam denken und sprechen, liegt immer die Vorstellung nahe, dass wir ein gemeinsames Verständnis anstreben oder gar erreichen könnten. Solche Gemeinsamkeiten würden aber allenfalls über die Welt bestehen, denn die Gemeinsamkeit zwischen den Dialogbeteiligten ist im Dialog bereits gegeben, bevor irgend etwas geäussert wird. Was im Dialog gesagt wird, sind Worte - dia logos. Worte haben aber ihre Bedeutung nicht in sich, sondern in den Sprechenden und in den Hörenden. Es ist im Dialog nicht wichtig, dass diese Bedeutungen irgendwie übereinstimmen, sondern nur, dass es den Dialogteilnehmenden gelingt, durch die Worte den Sinn des Du zu erkennen. Im Dialog muss ich nicht über die richtige Interpretation von Worten befinden oder in irgendeiner Art intersubjektiv verstehen, was mit den Worten gemeint sein könnte. Der Dialog beruht darauf, dass wir verschieden sprechen. Im Dialog hören alle, was sie hören, und alle verstehen, was sie verstehen.

Die hier vorgestellten Dialoge sind äusserlich durch Dialogregeln bestimmt. Ein paar einfache Dialogregeln, die sich am Anfang von Veranstaltungen schon oft bewährten, beschreiben etwa, dass ich im Dialog ich-Formulierung verwende und in die Mitte spreche. Ich spreche nicht zu, sondern mit Menschen. Die Regeln sollen mich in bezug auf Argumentationen und Ueberzeugungen sensibilisieren. In Dialogen versuche ich nicht zu überzeugen, was von andern bezeugt wird. Ich bezeuge, was ich fürwahrnehme. Die für mich grösste Herausforderung besteht darin, im Dialog etwas anderes als andere zu sagen, ohne dies als ihnen zu widersprechen zu begreifen. Im Dialog muss ich auf eine radikale Weise in meiner Vorstellung sein, weil ich nur so den Respekt nicht verletze. Die durch Dialogregeln selektierten Formulierungen lassen sich als eine Art Absicherung verstehen, als ein Behältnis, innerhalb dessen ich ohne Vorsicht und ohne Rücksicht von Herzen sprechen kann. Was mir in einer Diskussion als Widerspruch erscheint, verstehe ich im Dialog als komplementäre Auffassung, die Reichtum erschliesst, weil von allem, was von Herzen gesagt wird, nichts ausgeschlossen wird.


 
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Man kann in der Dialogveranstaltung nach der Funktion der gewählten jeweils Regeln fragen. Eine Funktion der Regeln sehe ich darin, noch nicht entwickeltes Vertrauen zu überbrücken. Ich brauche beispielsweise im Dialog eine Art Vertrauen, welches mir auch das Aushalten von Aussagen ermöglicht, die ich nicht sofort verstehen kann. Wenn ich dieses Vertrauen entwickelt habe, kann ich im Dialog Bewertungen zurückstellen. Ich kann abwarten, wohin die Reise gehen wird, ich muss nicht sofort ins Steuer greifen. Die Regeln können - bewusst oder unbewusst - so gewählt werden, dass sie für mich Effekte haben wie dieses vorerst nur potentiell vorhandene Vertrauen. Man kann etwa als Regel wählen, auf rasche Bewertungen zu verzichten, Aussagen in der Schwebe zu halten, auch wenn das Vertrauen noch nicht durch Erfahrungen begründet ist. Eine entsprechende Regel würde etwa lauten, dass die Aussagen nicht kommentiert werden, dass also beispielsweise nicht erklärt wird, wie eine Aussage zu verstehen sei. Im Dialog wird sich zeigen, wie das aktuelle Nichtverstehen, etwa das Staunen darüber, dass jemand etwas ganz Undenkbares sagt, aufgehoben wird.

Die Dialogregeln sollen Wirkungen entfalten, die einen Dialog erkennbar machen. Umgekehrt kann man die Dialogregeln dann auch als Beschreibung eines Dialoges auffassen. Da wir weder den Dialog noch die Dialog-Veranstaltung neu erfinden, beginnen wir praktischerweise mit ein paar Regeln, die sich an anderen Orten bereits bewährt haben. Alle Regeln können jederzeit modifiziert oder ersetzt werden, wenn sie den Dialog behindern oder blockieren. In einer gewissen Hinsicht geht es ja in der Dialogveranstaltung darum, die Dialogregeln aufzuheben, also darum, in den Dialog zu kommen. Die Regeln lenken meine Aufmerksamkeit. Wenn ich eine Dialogregel verletze, habe ich Anlass über mein Verhältnis zum Dialog nachzudenken. Im Dialog denke ich aber nicht im Stillen und nicht einsam für mich, sondern gemeinsam, partizipierend, eben im Dialog. Die Regeln und deren Verletzungen können kollektive Anlässe schaffen. Dabei kann ich neue Sichten auf die Regel und auf mögliche Interpretationen der Regeln gewinnen. Regeln können sinnlos werden, weil sie gar nicht mehr gebrochen werden oder eben, weil sie noch zu widerständig sind und den Fluss des Dialoges verhindern.

* * *

Die vorgelegten Berichte sind auch in dem Sinne fiktiv, als ich Erinnerungen an Dialoge aufschreibe. Ich schreibe die Erinnerungen als direkte Reden, weil ich so einen für mich wesentlichen Aspekt der Dialog-Veranstaltungen veranschaulichen kann, nämlich wie einfach und voraussetzungslos Dialog-Veranstaltungen inszeniert werden können. Dialog-Veranstaltungen erläutern sich quasi selbst, das heisst, sie brauchen keinen Kommentar, was die Dialogregel reflektiert, wonach im Dialog keine Kommentare gemacht werden.

Man kann diese Berichte als eine spezifische Anleitung zur Dialog-Veranstaltung lesen, wobei verschiedene, aber bei weitem nicht alle Möglichkeiten der Organisation solcher Veranstaltungen zur Sprache kommen. Man kann in den Berichten auch konkrete Auffassungen zum Dialog selbst finden, es sind aber Auffassungen von Teilnehmenden, die keinerlei privilegierten Sichtweisen vertreten. Der Dialog repräsentiert die Beziehung zwischen dem ich und dem du und wird so in jedem ich-du-Verhältnis immer wieder neu geschaffen.


 
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Einladungen

Vor einigen Jahren wurde ich zu einer Dialogveranstaltung eingeladen. Ich stutzte. Ich fragte mich unwillkürlich, was ein Dialog sein könnte, zu welchem man eingeladen wird. Ich dachte an eine Art Friedensangebot, an ein Angebot, ein festgefahrenes, abgebrochenes Gespräch wieder aufzunehmen. Ich hatte aber keinen mir bewussten Streit, zumal nicht mit Renate, die mich zum Dialog eingeladen hatte. Also fragte ich: "Worüber wollen wir denn einen Dialog führen? Renate antwortete: "Ich wurde kürzlich zu einer Dialogveranstaltung eingeladen. Ich bin einfach hingegangen und es hat mir dort so gut gefallen, dass ich das jetzt auch machen will. Deshalb lade ich Dich jetzt zu einer Dialogveranstaltung ein." Ich erinnere mich, dass ich damals noch einige Fragen auf der Zunge hatte, aber ich sagte zu. Diese Dialogveranstaltungen haben mir dann so gut gefallen, dass ich später beschloss, auch zu solchen Dialogveranstaltungen einzuladen. Wenn ich nun Leute zu einer Dialogveranstaltung einlade, werde ich oft gefragt, worüber wir einen Dialog führen wollen. Das erinnert mich jedesmal daran, wie ich mit dieser Einladung zuerst umgegangen bin. Ich antworte dann: "Ich wurde kürzlich zu einer Dialogveranstaltung eingeladen. Ich bin einfach hingegangen und es hat mir dort so gut gefallen, dass ich das jetzt auch machen will. Deshalb lade ich Dich jetzt zu einer Dialogveranstaltung ein." Und weil ich mich auch daran erinnere, dass ich damals noch viele Fragen hätte stellen wollen, sage ich: "Lass uns doch einfach gemeinsam schauen, was wir im Dialog über den Dialog erkennen."


Ein Anfang

In meiner ersten Dialogveranstaltung, zu welcher ich von Renate eingeladen wurde, waren zehn Personen, von welchen ich die meisten mehr oder weniger gut kannte. Wir sassen auf Stühlen, die im Kreis aufgestellt waren. Am Boden in der Mitte des Kreises waren eine Vase mit einigen Tulpen und einige andere Gegenstände auf einem farbigen Tuch. Nachdem sich alle gesetzt hatten, schob Renate die nichtbesetzten Stühle aus dem Kreis, setzte sich selbst wieder und begrüsste uns. Sie schlug eine ganz kurze Vorstellungsrunde vor. Ich sagte, dass mir solche Runden immer etwas peinlich seien, weil ich nie recht wisse, was ich in solchen Runden sagen solle. Die meisten sagten ihren Namen, was sie arbeiten und dass sie von Renate eingeladen wurden. Dann sagte Renate, wir sollen uns zuerst einige Gedanken über unsere Erwartungen und über den Dialog machen, also gemeinsam zusammenzutragen, was wir als Dialog bezeichnen und was wir uns von einem Dialog erhoffen. Sie sagte, wir sollten dabei nicht um Definitionen streiten, weil es nicht um richtig oder falsch gehe, sondern offenen Herzens aufzählen, was uns wichtig scheine. Wir sollten nicht bewerten, was andere sagten, sondern zuhören und uns zu eigenen Vorstellungen inspirieren lassen, die wir dann wiederum in den Kreis eingeben sollen. Sie selbst habe damit bereits gesagt, was ihr im Dialog sehr wichtig scheine, nämlich dass wir von Herzen sprechen und nicht sofort bewerten, was andere sagen.


 
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Renate verdichtete unsere Beiträge. In ihrer Zusammenfassung haben wir in unserem Dialog zusammengetragen, dass wir uns gegenseitig respektieren, zuhören, vor allem von uns selbst und unseren Erfahrungen sprechen und dabei auf Annahmen und Bewertungen verzichten sollten. Wir umschrieben dies durch eine achtsam erkundende Haltung, wie sie ernsthaft Lernende auszeichnet. In dieser Haltung würden wir nicht nur beobachten, was gesagt wird, sondern auch, wie wir in der Kommunikation aufgehoben sind, wie wir durch unsere Kommunikation eine Kommune, eine Gemeinschaft werden.

Renate erzählte dann von einem Buch von David Bohm, in welchem die Grundzüge des Dialoges, wie wir sie eben selbst entwickelt hätten, beschrieben seien. David Bohm habe realisiert, dass unsere Gespräche oft gar keine Gespräche seien, sondern hoffnungslose Diskussionen, in welchen es nur darum ginge, wer recht habe. Er siedle den Dialog als offenes Gespräch am Ende der Diskussionen an, also dort, wo die Einsicht gewonnen wurde, dass weitere Diskussionen zu nichts mehr führen. Der Dialog beruhe auf Fertigkeiten, die in unserer Diskussionsgesellschaft verkümmert seien. David Bohm habe die Dialogveranstaltungen entwickelt, um diese Fertigkeiten, die wir früher einmal alle gehabt hätten, zu reanimieren und zu neuer Blüte zu bringen. Respekt und Achtsamkeit, sagte Renate, sei eine Haltung, diese Haltung sei aber nicht nur eine innere Angelegenheit, sondern zeige sich im Dialog, also darin, wie wir gegenseitig miteinander sprechen. Im Dialog werde diese Haltung sichtbar und erfahrbar.

Unsere nächste Aufgabe war gemeinsam zu überlegen, wie sich die dialogische Haltung auf unsere Sprache und auf unser Sprechverhalten auswirkt. Renate sagte, wir könnten uns dazu beispielsweise überlegen, wie sich Dialoge von hitzigen Diskussionen unterscheiden. Erneut verdichtete sie als Moderatorin, was in dieser Runde gesagt wurde. In Diskussionen würden sich die Leute oft gegenseitig ins Wort fallen, andere diskreditieren und deren Argumente zerpflücken. In Diskussionen wolle jeder recht haben und die anderen missionarisch zu einer anderen, der je eigenen Meinung überzeugen. Renate machte uns auf einen Punkt speziell aufmerksam, in dem sie uns anwies, auch noch etwas zu bedenken, dass in Diskussionen sehr oft Tatsachen behauptet werden. Wir fanden, dass viele dieser Tatsachen sich später als Fantasien entpuppen, dass es aber schwierig ist, etwas gegen ins Feld geführte Tatsachen zu sagen, weil man Tatsachen eigentlich nur mit anderen Tatsachen bestreiten könne, was mithin auch der Grund sei, warum bestimmte Diskussionen so hitzig werden. Den nach dieser Erkenntnis auf der Hand liegenden Vorschlag brachte Renate selbst, indem sie sagte: "Also könnten wir im Dialog versuchen, auf alle Tatsachen zu verzichten. Was haltet ihr davon?" Wir spielten etwas mit dieser Vorstellung herum, dann sagte sie: "Ich meinte das nicht ganz so radikal. Mein Vorschlag wäre, dass wir nur über unsere eigenen Erfahrungen und über unsere eigenen Folgerungen sprechen." Das seien ja auch Tatsachen, aber subjektive, die für andere Menschen nicht zwingend seien. Wenn jemand sage, dass er etwas gesehen, erlebt oder gefühlt habe, spreche er über seine Wahrnehmungen, nicht über die Wirklichkeit. Das erleichtere ihr das Zuhören sehr. Nur über eigene Wahrnehmungen zu sprechen sei ganz einfach. Wir müssten dazu nur ich-Formulierungen verwenden, also nicht von "man" sprechen und einfach nichts behaupten und nicht erzählen, wie die Welt wirklich sei.


 
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Dann erzählte Renate wieder aus dem Buch. Im Dialogverfahren müssten sich die Teilnehmenden ohnehin an bestimmte Regeln halten, wie wir sie ja auch formuliert hätten. So sei beispielsweise klar, dass man im Dialog niemanden unterbreche. Sie sagte: "Wenn ich aber achtsam bin, unterbreche ich auch niemanden, der noch nicht spricht, sondern sich erst noch überlegt, was er sagen will. Ich meine damit, dass wir in der Dialogrunde darauf achten können, ob jemand etwas sagen will. Wenn ich merke, dass jemand zum Wort ansetzt, warte ich mit meinen Worten." Wir hatten einige skeptische Teilnehmer im Kreis, oder etwas dialogischer gesagt, einige der Teilnehmenden äusserten sich manchmal skeptisch. Peter, der sich als Physiker vorgestellt und schon einige Male auf den naturwissenschaftlichen Diskurs verwiesen hatte, sagte: "Wenn ich warte und alle andern auch warten, weil ja niemand weiss, ob nicht gerade jemand anderer reden will, dann warten doch alle, dann ist der Dialog zu Ende, weil niemand mehr spricht." Renate lächelte und wartete etwas, bevor sie antwortete: "Wenn ich achtsam bin, merke ich dann schon, dass niemand spricht, dann kann ich etwas sagen. Und in der Zwischenzeit, also solange alle noch warten, kann ich noch etwas den Worten hinterher denken, nachdenken, die ich zuvor gehört habe."

Renate stand auf und ging in die Mitte des Kreises. Sie nahm einen kurzen Stab, der neben einer Schale lag, und schlug damit an den Rand der Schale, die wie ein heller Gong tönte. Der Klang verhalte ganz langsam und alle lauschten dem Klang nach. Renate sagte: "Mindestens am Anfang kommt es öfter vor, dass alle reden wollen als dass alle schweigen. Dann wird auch der Dialog hitzig. Wenn jemand merkt, dass er nur noch zum Wort kommen könnte, wenn er die andern unterbricht, geht er in die Mitte und schlägt diese Klangschale an. Dann schweigen alle, bis der Klang auch schweigt. Ihr werdet sehen, das wirkt Wunder. Aber wir wollen uns nicht nur auf dieses Wunder verlassen." Sie hob einen anderen Stab auf, einen gläsernen, der mit farbiger Flüssigkeit und glitzernden Partikel gefüllt war. "Das ist sozusagen unser Zauberstab. Nur wer ihn in den Händen hat, darf sprechen. Jetzt darf nur ich sprechen, weil ich den Stab habe. Wenn ich fertig gesprochen habe, lege ich den Stab hin und wer etwas sagen will, holt zuerst den Stab." Peter sagte: "Das ist ein lustiges Spiel, es erinnert mich an den Kindergarten ..." Renate unterbrach ihn: "Du solltest jetzt eben nichts sagen, weil Du den Stab nicht hast. Es geht mir mit dem Stab um folgendes: Er verlangsamt unser Gespräch. Wenn ich beispielsweise jemanden, der etwas sagt, an den Kindergarten erinnern möchte, oder ihn gar mit einem tollen Argument widerlegen will, muss ich etwas warten. Und in der Zeit, bis ich endlich zum Sprechstab gekommen bin, hat sich vielleicht mein Gemüt beruhigt, und ich muss gar nicht mehr sagen, was mir vorher so dringend schien."

Renate legte den Stab in die Mitte und setzte sich. Alle schienen zu warten, niemand holte den Stab und niemand sagte etwas, ohne den Stab zu holen. Nach einer ganzen Weile sagte Renate lachend: "Jetzt scheint der Dialog zu Ende zu sein!" Und Peter sagte sofort: "Du hast den Stab nicht geholt!" Alle lachten. Peter holte den Stab und sagte noch im Stehen: "Ich finde das immer noch wie im Kindergarten und ich frage mich, wozu wir neben dem Stab auch noch die Klangschale habe. Das ist ja nicht nur doppelt genäht." Renate sagte: "Ich möchte Euch bitten, jeweils erst zu sprechen, wenn Ihr wieder sitzt. Es geht ja um eine Verlangsamung und es wird natürlich viel langsamer, wenn wir auf unsere Stühle zurückgehen, als wenn wir in der Mitte stehen bleiben und einander den Zauberstab aus den Händen reissen. Die Klangschale ist einfach ein zusätzliches Mittel. Vielleicht brauchen wir sie nie, aber auch dann sehen wir sie doch in der Mitte stehen und das hilft uns vielleicht, daran zu denken, nicht in eine hitzige Diskussion zu verfallen." Peter stand immer noch mit dem Zauberstab in der Mitte. Mir schien, er wollte etwas darüber sagen, dass der Zauberstab offenbar nicht recht funktioniert, weil schon wieder Renate gesprochen hatte, er liess es aber bleiben. Er legte den Stab wieder in die Mitte und setzte sich.


 
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Nach einer Weile sagte Renate: "Ich möchte Euch noch ein ganz wichtiges Prinzip erläutern. Wir sitzen hier in einem Kreis. Wenn ich spreche, spreche ich zu allen. Ihr wisst ja, dass es unanständig ist, mit seinem Nachbarn zu schwatzen, während jemand anderer spricht. Das kann hier nicht vorkommen, weil wir ja nur sprechen, wenn wir den Zauberstab in den Händen haben." Sie war während des Redens aufgestanden und hatte den Stab aufgenommen. Sie fügte ein: "Ihr seht ja auch, dass es auch für mich manchmal schwierig ist, mich an diese Kindergartenregel zu halten." Dann fuhr sie weiter: "Im Dialog spreche ich immer zu allen, ich spreche in die Mitte. Wir können uns vorstellen, dass die Worte dort wie in einer Wolke schweben und darauf warten, gehört zu werden. Nicht alle hören dieselben Worte. Es ist eher wie bei einem grossen Buffet. Jeder nimmt etwas davon. Das Buffet ist für alle das gleiche, aber jeder isst etwas anderes. Was ich beitrage, stelle ich auf dieses Buffet. Ich dränge es niemandem auf. Ich spreche nicht zu einzelnen Personen, sondern eben in die Mitte des Kreises. Vielleicht passt das, was ich sage, jetzt gerade nicht zudem, was jemand jetzt gerade denkt. Aber schon kurze Zeit später kann das anders sein. Vom Buffet nehme ich pro Gang was mir passt und was für mich zusammenpasst. Ich komme aber später zum Buffet zurück und nehme Delikatessen, die ich zuvor habe liegenlassen. Im Dialog versuche ich das Gesagte in der Schwebe zu halten. Ich warte, bis es passt.

Brigitte fragte: "Du hörst also nur, was Dir passt?" und fügte sofort an: "Oh, ich darf ja gar nichts sagen, weil ich den Stab nicht habe." Renate, die sich wieder gesetzt hatte, stand auf, um den Stab in die Mitte zu legen, obwohl sie unmittelbar neben Brigitte sass. Brigitte war fast gleichzeitig mit Renate in der Mitte und wollte ihr den Stab schon knapp über dem Boden aus der Hand nehmen. Aber Renate hielt den Stab fest umschlossen. Sie richtete sich nochmals auf und schaute Brigitte an. Dann bückte sie sich wieder und legte den Stab hin. Brigitte packte den Stab augenblicklich. Renate legte ihre Hand auf die Hand von Brigitte und sah sie an. Sie sagte: "Wir haben Zeit, viel Zeit."

Brigitte setzte sich auf ihren Stuhl und wiederholte ihre Frage. Renate antwortete nicht. Nach wirklich langer Zeit, in welcher ich das Knistern in der Luft hören konnte, sagte Renate: "Es ist wichtig, den Stab wieder in die Mitte zu legen, wenn man nichts mehr sagen will. Man muss sich dabei nicht beeilen, wir haben Zeit, viel Zeit." Brigitte legte den Stab zurück und sagte: "Dann kannst Du mir ja jetzt eine Antwort geben."

Renate ging langsam in die Mittel und schlug die Klangschale ziemlich kräftig an. Sie setzte sich wieder ohne den Zauberstab mitzunehmen. Nachdem der Klang schon eine Weile verklungen war, holte Brigitte den Stab, setzt sich langsam, sorgfältig und sagte dann: "Also, es tut mir leid, aber ich ... Ich meine, ich will die Frage nochmals ganz ruhig und ohne Hektik stellen. Also: Hörst Du im Dialog nur was Dir passt, so wie Du bei einem Speisebuffet nur nimmst, was Dir passt. Ist das Dialog? Ich verstehe es einfach nicht." Während sie den Stab in die Mitte legte, fügte sie an, dass sie vielleicht deshalb etwas energisch geworden sei.


 
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Renate schaute in die Runde, aber niemand sagte etwas. Dann holte sie den Stab und sagte: "Ich muss vielleicht den meines Erachtens wichtigsten Grundsatz noch etwas mehr verdeutlichen. Im Dialog spreche ich immer in die Mitte, ich lege etwas aufs Buffet, aber nie jemandem etwas in seinen Teller. Umgekehrt beobachte ich sehr gut, was andere in die Mitte legen. Ich höre aufmerksam zu. Ich schaue immer das ganze Buffet an. Aber ich kann nie alles aufnehmen, sowieso nicht alles zusammen und sofort. Ich versuche möglichst vieles in der Schwebe zu halten, bis es passt." Sie machte eine recht lange Pause. "Was heisst das, dass ich in die Mitte spreche? Das heisst, ich spreche keine einzelne Person an. Wen ich dann angesprochen habe, höre ich im Nachhinein, wenn ich Antworten bekomme. Das kann sofort der Fall sein, weil jemand etwas dazu sagen will, also weil es bei jemandem gerade auf den Teller passt. Es kann aber auch später sein, einen Gang später sozusagen. Und vor allem kann es auch sein, dass ich eine Antwort unter der bewussten Ebene bekomme, eine Antwort zwischen den Zeilen." Sie stand von ihrem Stuhl auf. "Ich werde später noch mehr dazu sagen, jetzt will ich an der Oberfläche der Regel bleiben. Ich spreche immer in die Mitte und nie zu einer einzelnen Person."

Renate hatte sich zunehmend mehr an Brigitte gewandt, während sie davon sprach, dass man in die Mitte spricht. Brigitte setzte zu einer Antwort an, doch Renate hielt ihr den Zauberstab vor die Nase und fuhr fort: "Diese Regel hat unter anderem den Sinn, dass sich keine Zweiergespräche entwickeln, bei welchen die andern im Kreis ausgeschlossen sind und dann logischerweise ihrerseits mit ihren Nachbarn Zweiergespräche anfangen."

Peter, der etwas unruhig auf seinem Stuhl herumgerutscht war, sagte: "Ich weiss, dass ich jetzt ganz viele Regeln verletze, aber es muss doch eine Möglichkeit geben, dass ich etwas sagen kann, wenn ich etwas sagen will. Wir kennen jetzt ja noch nicht alle Regeln, ich könnte mir vorstellen, dass es so etwas wie einen zweiten Gong gibt, den man anschlagen kann, wenn man gerne den Sprechstab hätte. Ist das nicht so?"

Renate schaute demonstrativ in die Mitte, als suchte sie einen Gong, und sagte dann: "Ich kann keinen Gong sehen. Aber ich sehe unsere Klangschale. Die Klangschale hat generell den Sinn den Dialog zu unterbrechen, wenn jemand den Dialog nicht mehr recht wahrnehmen kann, also wenn sich jemand gestört fühlt durch das, was gerade läuft. Störungen haben Vorrang. Es kann beispielsweise sein, dass jemand spricht und spricht und spricht und spricht und. Dann kann jemand die Klangschale anschlagen. Ich kann mir aber auch einen Dialog vorstellen, in welchem eine einzige Person den ganzen Abend spricht, ohne dass jemand etwas dagegen hätte, einfach weil alle merken, das das jetzt richtig ist." Sie ging auf Peter zu blieb vor ihm stehen und sah ihn an und sagte: "Ich spreche jetzt in die Mitte nicht zu Peter. Manchmal habe ich das Gefühl, dass ich zu einer Sache unbedingt und sofort etwas ganz Entscheidendes sagen muss. Manchmal scheint es mir so wichtig, dass ich die andere Person sogar beim Reden unterbreche. Aber im Dialog kommt das nicht vor. Ich meine, dieses Gefühl habe ich zwar auch in Dialogveranstaltungen mehr als mir lieb ist, aber dann besinne ich mich auf die Dialogregeln. Dann weiss ich, dass es hier anders ist, dass ich hier bin um zuzuhören und um zu erwägen, nicht zum Debattieren." Sie hielt ihren Zauberstab hoch, um Peter zuvorzukommen und sagte: "Nur wenn ich es gar nicht mehr aushalten kann, dann schlage ich auf die Schale."


 
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Ich konnte richtig sehen, dass Peter etwas sagen wollte. Er schnitt Grimassen, aber er schwieg und er schlug auch nicht auf die Schale. Er wartete und Renate liess ihn warten. Sie sagte nichts mehr, aber sie legte den Stab nicht zurück. Schliesslich sagte Brigitte: "Also ich finde das ziemlich schräg, ich sehe nicht, wie ein gutes Gespräch zustande kommen könnte, wenn wir das alles ernst nehmen würden, wenn also wirklich jede nur hören würde, was ihr passt."

Heiner, der sich selbst als radikalen Konstruktivist vorgestelt hatte, sagte: "Ich finde auch einiges schräg hier, aber gerade das gar nicht. Im Konstruktivismus geht man davon aus, dass jeder Hörer nur hört, was er hört. Man kann also nie etwas sagen und dabei meinen, der andere höre es. Es ist vielmehr so, dass ich erst weiss, was ich überhaupt gesagt habe, wenn ich höre, was der andere gehört hat, also wenn ich sehe, wie der andere darauf reagiert. Ich glaube, dieses Prinzip stammt von Norbert Wiener."

Peter sagte: "Ja, ja, im Konstruktivismus unter Solipsisten. Aber hier ..."

"Hier gilt die Regel mit dem Sprechstab" unterbrach Renate, die immer noch im Kreis stand und den Sprechstab in den Händen hatte. Sie setzte sich auf ihren Stuhl und sagte nun sichtbar zu allen: "Wir können auch Rauchpause machen, nicht zum Rauchen, sondern um unsere Köpfe etwas verrauchen zu lassen. Und natürlich kann und will ich niemanden von Euch zwingen, sich an irgendwelche Regeln zu halten. Ich habe Euch eingeladen, weil ich mit Euch eine bestimmte Erfahrung teilen wollte und immer noch will. In meinen bisherigen Erfahrungen haben sich diese Regeln immer sehr positiv ausgewirkt, aber ich gebe gerne zu, dass diese Regeln etwas, ja, gewöhnungsbedürftig sind. Lasst uns eine kurze Pause machen, dann sehen wir weiter." Halblaut fügte sie an: "Dann sehen wir auch, wer noch da bleiben will."

Alle standen auf, aber niemand verliess den Raum. Ich brauchte keine Pause, im Gegenteil, ich war gespannt auf den weiteren Verlauf. Ich setzte mich wieder und es dauerte nicht lange, bis alle wieder auf ihren Stühlen sassen. Renate, die den Stab immer noch in ihren Händen hielt, sagte: "Dann können wir ja weitermachen. Ich wäre froh, wenn wir die Regeln beachten könnten. Es gibt noch mehr Regeln, aber am Anfang sollten wir uns nicht überfordern. Ich schlage also vor, dass jeder und jede nur spricht, wenn er oder sie mit dem Sprechstab auf seinem Stuhl sitzt, und dass dann nur ich-Formulierungen verwendet werden, die überdies in die Mitte gesprochen werden. Wenn man so will, haben wir bislang drei Regeln." Sie legte den Stab in die Mitte.

Peter holte den Stab. "Also ich bin einverstanden, wir spielen dieses Spiel. Aber mehr noch als solche Regeln braucht ein Dialog ein Thema. Mir ist nicht klar, worüber wir sprechen wollen. Bis jetzt haben wir ja fast nur über den Sinn der Regeln diskutiert. Natürlich könnten wir uns noch lange über diese Regeln unterhalten, aber vielleicht wäre ein anderes Thema interessanter, oder?" Er schaute in die Runde. Dann schaute er auf den Stab in seinen Händen und schien zu realisieren, dass er keine Antwort bekommen würde, bevor er den Stab zurück legte.


 
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Zwei oder drei Leute standen etwa gleichzeitig auf und setzten sich wieder, als sie bemerkten, dass andere auch aufgestanden. Renate lächelte und holte den Stab. "Ich spreche heute etwas mehr als sich gebührt, weil ich zusätzlich zum Dialog eine Art Moderation mache und euch die Regeln und Prinzipen erläutere. Ein Dialog kann kein Thema haben. Wenn der Dialog ein Thema hätte, könnte ich nicht sagen, was ich sagen will, sondern müsste mich immer an das Thema halten. Mir fällt eigentlich in jeder Diskussion auf, wie stark die Leute vom Thema abweichen, bis dann jemand sagt, dass das nicht zu Thema gehöre. Dann weicht schon der nächste wieder ab und der übernächste sagt schon wieder, was alles nicht zu Thema gehört und so weiter. Im Dialog gibt es deshalb kein Thema, an welches man sich halten müsste. Wenn jemand etwas über Fussball oder über den letzten Besuch bei Zahnarzt erzählt, kann ich ohne weiteres über die ersten Menschen auf dem Mond sprechen, wenn ich gerade das so wichtig finde. Weil ich alles auf das Buffet stelle, muss es nicht zum davor Erzählten passen. Es ist vielleicht Dessert, während andere mit ihren Beiträgen die Vorspeise bringen. Für mich ist wichtig, dass ich nicht über etwas sprechen muss, nur weil es eben gerade zufällig Thema ist. Ich spreche über das, was mir wichtig ist."

Ich dachte darüber nach, was das für ein Gespräch bedeuten könnte, wenn alle Beteiligten unabhängig von einander irgend etwas, was sie wichtig finden, erzählen würden. Vielleicht dachten auch die anderen darüber nach. Hanspeter jedenfalls holte den Stab ohne Eile, nachdem er wieder in der Mitte lag. "Also ich würde gerne einmal etwas zusammenfassen, was ich bisher verstanden habe. Ich muss vorweg schicken, dass fast alles das Gegenteil davon ist, was ich bisher über den Dialog dachte, aber als Spiel finde ich es gerade deshalb sehr spannend. Also: Es geht in diesem Dialog darum, dass wir uns einerseits an Regeln halten, aber das tun wir ja sowieso immer. Die Frage ist also mehr, was sind das für Regeln, die in diesem Dialog gelten oder gelten sollen? Mir kommt es so vor, als ob der Erfinder dieses Dialoges geschaut hätte, was in normalen Diskussionen nie recht funktioniert, und genau daraus Regeln gemacht hat. In normalen Diskussionen gibt es immer Leute, die vom Thema abweichen, also haben wir jetzt die Regel, gar kein Thema zu haben. In normalen Diskussionen kommt es oft zu Behauptungen, also haben wir jetzt die Regel, nur über unsere Wahrnehmung zu sprechen. In normalen Diskussionen kommt es, wenn mehrere Leute dabei sind, immer wieder zu Zweierdiskussionen, weil einer dem andern sagt, dass etwas bestimmtes nicht stimmt, worauf der andere dann antworten muss, und so weiter, also darf man im Dialog gar nicht zu einer anderen Person sprechen, sondern eben nur in die Mitte. Man könnte eigentlich sagen, dieser Dialog sei eine Anti-Diskussion, das würde die Sache, die ich bis jetzt verstanden habe viel besser treffen als Dialog." Beim Zurücklegen des Stabes sagte er: "Ihr müsst jetzt natürlich nichts dazu sagen. Ich wollte einfach einmal sagen, wie ich es sehe, ihr könnt das als kalten Kaffee nach dem Buffet nehmen."

Ich hing immer noch etwas meiner Frage nach. Ich nahm den Stab auf und sagte: "Ich denke darüber nach, was passiert, wenn in einem Gespräch jeder nur sagt, woran er selbst gerade denkt, und überhaupt nicht auf das eingeht, was andere gesagt haben. Ich antworte damit natürlich nicht auf die Antidiskussion von Hanspeter, sondern sage eben, woran ich denke. Ich finde diesen Dialog, oder diese Vorstellung irgendwie seltsam, aber ich weiss nicht recht, was mich daran stört."


 
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Als ich den Stab zurücklegte, standen schon drei Leute fast in der Mitte, um den Stab zu holen. Wir schauten uns alle an und dann fingen wir an zu lachen. Verena sagte: "Das ist auch wie bei einem Buffet, alle wollen zur gleichen Zeit dasselbe, man muss immer anstehen, egal wie gross das Buffet ist." Dann nahm sie den Stab und sagte: "Eigentlich wollte ich nur sagen, dass ich mir die gleichen Gedanken gemacht habe wie Rolf. Ich finde aber nicht, dass das nicht zu dem passt, was vorher gesprochen wurde. Ich dachte darüber nach, weil Renate gesagt hat, dass ein Dialog kein Thema habe, das passt doch zusammen oder?" Sie stand immer noch in der Mitte. Sie drehte ihre Augen nach oben und sagte dann: "Und eigentlich haben wir doch schon die ganze Zeit ein Thema, wir sprechen ja immer über den Dialog, es ist ein Dialog über den Dialog. Ich finde, alle halten sich an dieses Thema, vielleicht sogar viel besser, als wenn wir dieses Thema abgemacht hätten." Sie legte den Stab wieder auf den Boden und sagte: "Ich finde unseren Dialog auch etwas eigenartig, aber trotzdem spannend. Ich bin sicher, dass ich künftig Gespräche ausserhalb dieser Runde etwas anders wahrnehmen werde."

Dann sagte längere Zeit niemand etwas. Das war für mich eine eindrückliche Erfahrung. Dass so viele Menschen, die sich zu einer Gesprächsrunde treffen, solange schweigen können. Schliesslich nahm Hans den Stab. Ich hatte das Gefühl, er nahm ihn nicht, weil er etwas sagen wollte, sondern eher damit etwas gesagt wird, damit es nicht noch länger einfach ruhig ist. Er sagte: "Vielleicht kann man es so sagen, dass man für einen Dialog kein verbindliches Thema festlegt, aber dass dann doch über etwas gesprochen wird. Also ich hätte schon gerne, wenn wir über etwas sprechen würden."

Ohne die Regel mit dem Sprechstab hätte ich sofort geantwortet, warum er denn kein Thema vorschlage oder welches Thema ihn denn interessiere, aber ich konnte ja nichts sagen, weil ich den Stab nicht hatte. Dann merkte ich, dass ich damit zu Hans und nicht in die Mitte gesprochen hätte. Die Stabregel hatte mir also geholfen, eine andere Regel einzuhalten. Und ich merkte auch, dass ich das den andern mitteilen wollte, und auch, dass dazu keine Eile nötig war.

Hans sagte nach einer Pause: "Mich interessiert, ob es auch einen Dialog über eine anderes Thema als über den Dialog geben kann", und beim Zurücklegen des Stabes sagte er: "Falls wir jetzt alle Regeln kennen."

Heiner holte den Stab und sagte: "Ich kann ja mal sagen, wie das im Konstruktivismus ist. Da versteht jeder, was er versteht. Logischerweise kann es dann gar kein Thema geben, weil es sehr zufällig wäre, wenn der Sprecher und der Hörer das gleichen meinen würden. N. Luhmann sagte, dass man nicht kommunizieren könne, oder dass Kommuikation extrem unwahrscheinlich sei. Konstruktivistisch gesehen macht jeder sein eigenes Thema. In gewisserweise erkenne ich im Dialog ein konstruktivistisches Gespräch."

Brigitte sagte: "Ich weiss nicht, was Konstruktivismus ist, und Luhmann kenne ich auch nicht. Und den Sprechstab habe ich jetzt auch nicht, aber ich vermute, dass eine reine Verstehensfrage immer erlaubt ist, oder?"


 
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Heiner antwortete sofort: "Konstruktivismus ist eine Erkenntnistheorie, die sagt, dass es die Welt nicht gibt, dass sie von uns konstruiert wird. Man kann auch sagen, eine Wahrnehmungstheorie. Sie hat in der Philosophie eine lange Tradition. Und Luhmann ist ein Soziologe und ein berühmter Vertreter des Konstruktivismus. Am einfachsten erkläre ich Konstruktivismus mit der Frage, ob ein Baum, der mitten im Wald umfällt, auch dann Geräusche macht, wenn weit und breit niemand da ist, der die Geräusche hören kann."

Renate schaute Brigitte an und sagte: "Ich will nochmals etwas Moderierendes sagen. Im Dialog kann ich auch keine Verständnisfrage an jemanden richten, weil ich so ein Zweiergespräch anfange, wie wir jetzt gerade gesehen haben. Im Dialog muss ich warten, bis der andere es wichtig genug findet, seine Fremdwörter zu erklären. Meiner Erfahrung nach verpasse ich damit selten etwas. Wenn ich einen Begriff wie Konstruktivismus nicht kenne, wird er entweder nicht wichtig sein oder ohnehin noch zur Sprache kommen. Ich muss nur das Warten aushalten. Umgekehrt, und das ist ja gerade das Wichtige, zwinge ich so niemanden über etwas zu sprechen, was er vielleicht selbst nicht recht versteht."

Heiner hielt den Stab hoch und sagte: "Ich benutze keine Fremdwörter, die ich nicht kenne, ich weiss, was Konstruktivismus ist. Und gerade deshalb kann ich diesen Dialog auch sehr gut verstehen, weil ich ihn eben konstruktivistisch interpertieren kann. Ich wollte nur auf diesen Zusammenhang hinweisen, weil dieser Dialog, der offenbar einigen Leuten ganz konfus vorkommt, für mich total Sinn macht. Diese Regeln und dass wir kein Thema haben, passen eben gut zur Vorstellung, dass Kommunikation ohnehin sehr unwahrscheinlich ist. Ich finde, das wird hier ja auch sehr schön sichtbar."

Peter sagte: "Ja, mir kommen diese Regeln auch so vor. Irgendeine haarsträubende Soziologentheorie sagt, dass wir nicht kommunzieren können und jemand sucht dann Regeln, die diese Theorie wahr machen. Im Konstruktivismus denken sich die Menschen ja alles nur aus. Oder genauer gesagt, es gibt gar keine wirkliche Menschen, weil es gar nichts wirklich gibt. Dann ist es logisch, dass sie nicht miteinander kommunizieren können. Das sehe ich auch. Aber leider, oder zum Glück, bin ich wirklich hier und Ihr auch. Und wir sprechen miteinander und wir verstehen einander, mindestens teilweise. Ich meine, wir könnten ziemlich gut kommunizieren, wenn wir es uns nicht mit komischen oder konstruktivistischen Regeln schwer machen würden." Er winkte ab und sagte: "Entschuldigt bitte, dass ich schon wieder damit angefangen habe, aber .."

Renate stand auf. Sie nahm den Stab von Heiner und sagte: "Die Regeln sind nicht so wichtig, wichtig ist die Haltung, die hinter diesen Regeln steckt oder die sich hinter diesen Regeln versteckt. Ich schlage vor, dass wir jetzt aufhören, nur über den Dialog und Regelns zu sprechen und uns mehr auf den Dialog einlassen. So lernen wir vielleicht mehr über den Dialog, als wenn wir den Dialog noch lange so analytisch zerlegen. Wir können ja nach dem Dialog noch etwas über unsere Erfahrungen im Dialog sprechen." Sie setzte sich wieder und fuhr weiter: "Ich erzähle Euch einmal, womit ich mich in letzter Zeit beschäftige. Wir wohnen in einem Quartier, in welchem eigentlich die besten Voraussetzungen für eine gute Nachbarschaft gegeben sind. Die Häuser sind etwas speziell, nicht ganz billig, aber auch keine Prestigeobjekte. Es gibt eine Eigentümerversammlung, weil einige gemeinsame Kosten anfallen und manchmal irgendwelche Entscheidungen getroffen werden müssen. Es geht dabei nicht um riesige Sachen oder riesige Beträge, weil das alles schon durch die Verträge geregelt ist. Man könnte das ohne weiteres so sehen, dass diese Versammlung der Beziehungspflege unter Nachbarn dient. Bislang sind diese Versammlungen aber immer ziemlich komisch verlaufen. Es gab beispielsweise schon mehrere Vorschläge, wie man irgendwelche Details reglementieren könnte, obwohl in den Eigentümerstatuten schon alles Denkbare reglementiert ist. Wir haben deshalb vorgeschlagen, die Versammlungen etwas informeller zu gestalten, mit einem Grill und etwas Wein. Das wurde aber abgelehnt. Eine kleine Grillparty könne man ja jederzeit machen, aber diese Versammlung müsse sachlich bleiben. Ich will das alles hier nicht weiter ausmalen, ich will Euch mehr erzählen, was mich daran so bewegt. Wenn wir es nicht schaffen, in so kleinen kulturell relativ homogenen Einheiten einen Dialog zu führen, wie sollten wir es schaffen, einen interkulturellen, interkonfessionellen, globalen Dialog zu führen. Ich denke in letzter Zeit sehr oft über diese Frage nach, und das Dialogverfahren hat mich noch mehr sensibilisiert."


 
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Peter nahm das Rederecht zu sich und sagte: "Das finde ich eine interessante Frage. Man könnte sie noch etwas zuspitzen: Wenn es nicht einmal unter zehn Nachbarn mit einem immerhin gemeinsamen Interesse gelingt, einen Dialog zu führen, wie sollten da die Amerikaner und die Iraker oder die Iraner einen Dialog führen können. Und wenn ich mir jetzt noch vorstelle, man würde denen die Dialogregeln, die hier vorgestellt wurden, vorsetzen, dann würde ich ganz schwarz sehen, was ich für die ja ohnehin tue."

Emil sagte: "Wenn Vertreter von Regierungen in einer offiziellen Sache zusammen kommen, gibt es immer ein Protokoll, das davor ausgehandelt wurde. Da werden nicht nur Regeln abgemacht, sondern sogar, wer was sagen darf und vor allem, was nicht. Mich erinnern diese Dialogregeln sehr an solche Diplomatenprotokolle, in welchen alles nach Vereinbarungen läuft. Vielleicht ist das nur ein Zufall, aber diese Gespräche zwischen Regierungen, speziell zwischen kriegsführenden Regierungen, werden sehr oft als Dialoge bezeichnet."

Andreas fügte ohne den Stab zu holen an: "Ja, und dann heisst es oft auch noch, Dialog ja, aber Verhandlung nein, was ja auch noch auf eine ganz andere Grenze dieses protokollisierten Dialoges verweist. Vielleicht ist es gerade so, dass Dialoge in auswegslosen Situationen gesucht oder eher gewünscht werden. Eben dort, wo Diskussionen zu nichts mehr führen, wie in Nachbarschaften, wenn es scheinbar um den Waschküchenschlüssel geht."

Damit waren die Dialogregeln schon im ersten Kommentar schon wieder im Spiel. Renate nahm noch einen Anlauf: "Vielleicht könnten wir gemeinsam nach Dialogsituationen suchen. Dabei geht es mir weniger um gelungene Dialog, als darum, ein Gefühl dafür zu entwickeln, wie relevant der Dialog in der Paxis wäre. Unsere Nachbarschaft scheint mir ein praktischer Ort, wo ich mich für den Dialog einsetzen kann, gerade weil er noch nicht funktioniert. Es ist wohl klar, dass ich damit kein politisches Geplänkel meine, sondern ein Gespräch. Wir können hier Erfahrungen sammeln und austauschen darüber, wie wir Dialoge in gang bringen. Ich glaube, es geht dabei nicht um Themen, sondern um Orte oder um Verhältnisse, oder um Beziehungen."


 
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Heiner sagte: "Also ich will einen konstruktiven Beitrag leisten. Ich habe das so verstanden, dass wir uns über unsere Erfahrungen erzählen und darüber, wie wir mit diesen Erfahrungen umgehen, und was wir dann dabei erfahren. Ich hatte schon als Kind sehr oft das Gefühl, dass die Wirklichkeit sehr oft recht seltsam ist, oft so wie bei Alice im Wunderland, obwohl ich das Buch damals noch nicht kannte. Wenn ich meiner Mutter aber etwas davon erzählen wollte, sagte sie immer, dass ich ein Träumer sei, ein Tagträumer mit Hirngespinsten. Das hat mich ihr ziemlich entfremdet, sie hat mich nie ernst genommen. Heute nehme ich an, dass sie selbst ganz ähnliche Erfahrungen gemacht hatte wie ich, diese Erfahrungen aber verdrängen musste. Sie hatte Angst, weil sie sich das alles nicht erklären konnte. Als Kind wusste ich natürlich noch nicht, dass man in unserer Gesellschaft nicht über alles sprechen darf. Erst mit der Zeit dressierte mich meine Mutter, sie sagte mir jeweils, wann und wo und wie ich vernünftig sein ..."

Brigitte fragte: "Von was für Erfahrungen sprichst Du?"

Heiner sagte: "Ich will das jetzt nicht weiter ausführen, obwohl ich es extrem interessant finde. Die meisten Menschen kennen das, wovon ich erzähle, als Träume. Es geht natürlich nicht darum, ob das Träume sind, oder darum, wie wirklich die Träume sind, sondern mehr darum, dass sich die meisten Menschen auch im Traum nicht getrauen, sich mit ihren Erfahrungen auseinanderzusetzen. Darüber sollten wir einmal sprechen. Also bei mir wurde die Sache immer komplizierter. Eines Tages brachte man mich in den schulpsychiatrischen Dienst und dann hat man mir Pharmaka verschrieben. Aber hauptsächlich hat man mir gedroht und mich gezwungen, normal zu sein. Meine Mutter hatte sich dazu Verbündete genommen. Meine Lehrer und die Psychiater wussten ohnehin ganz genau, wie die Welt wirklich ist und was normal ist. Und ich musste quasi wie ein Schauspieler ein normales Kind spielen. Das ist mir dann mehr oder weniger gut gelungen, es war aber immer ziemlich anstrengend und hat mir oft Kopf- oder Magenschmerzen gemacht. Ich erkannte aber immer mehr, dass ganz viele Menschen auch schauspielten, also sich gegenseitig vormachten, normal zu sein. Als ich dann an der Uni studierte, wurde es wieder schlimmer, weil ich nichht mehr so gut verdrängen konnte. Meine Kopfschmerzen wurden chronisch und konnte mich immer weniger konzentrieren. Oft blieb ich am Morgen einfach im Bett liegen. Ich wurde richtig depressiv, das Normalsein machte mich krank."

Brigitte fragte: "Bitte entschuldige, wenn ich Dich unterbreche. Aber wie hast Du denn gemerkt, dass Dich das Normalsein krank macht. Dieser Gedanke ist mir keineswegs fremd. Ich habe das nur noch nie so klar gehört."


 
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Heiner sagte: "Ich erzähle Euch lieber, wie ich wieder gesund wurde. Ein Zufall brachte mich zur buddhistischen Meditation und diese brachte mich auch zur buddhistischen Lehre. Dabei erkannte ich, dass ich nicht verrückt bin, dass ganz viele Menschen Visionen und Erscheinungen haben und dass es vielleicht eher verrückt ist, an einer gegebenen stabilen Welt festzuhalten. Schliesslich bin ich auch auf die konstruktivistische Literatur gestossen und habe erkannt, dass auch bei uns im Westen über die Wirklichkeit nachgedacht werden darf. Bei mir lief eine zeitlang alles etwas zweigleisig, sozusagen östlich und westlich. Dann war ich ein paar Wochen in einem Kloster und der Meister dort sagte mir, dass es dies beiden Geleise nur in meiner Verwirrung gebe. Jetzt kann ich immer besser sehen, dass wir verschiedene Sprachen haben, um derselben Erfahrung Ausdruck zu geben. In unserer westlichen Welt bietet mir der Konstruktivismus eine passende Sprache. Ihr seht ja, dass es mir mittlerweile wieder viel besser geht. Für mich war die Vorstellung, dass es keine Wirklichkeit gibt, eine richtige Befreiung". Er machte eine Pause, aber niemand ergriff das Wort. Dann fuhr er weiter: "Ich würde gerne mehr darüber erzählen, aber ich weiss nicht, ob Euch das interessiert. Hier habe ich nur damit angefangen, dass Ihr sehen könnt, dass ich nicht abstrakt über den Konstruktivismus spreche, sondern über für mich sehr wichtige Erfahrungen. Ich finde, es passt sehr gut zum Dialog, davon auszugehen, dass es keine Wirklichkeit gibt. Dann müssen wir nämlich nicht darüber streiten, wer recht hat. Unser Problem war ja die Frage, wer was hört. Und da ich davon ausgehe, dass jeder selbst bestimmt, was er hört, gefällt mir die Idee mit dem Buffet eben sehr gut. Ich finde, dass diese Regeln eigentlich nur sagen, was der Konstrktivismus auch sagt." Er macht wieder ein Pause. Dann legte er den Stab zurück und sagte dabei: "Ich verstehe aber auch, dass diese Regeln Mühe machen, denn der Konstruktivismus macht ja auch vielen Menschen Mühe. Wohl all jenen, die die Wirklichkeit nicht loslassen können."

Ich weiss nicht, ob Renate deswegen aufgab. Sie sagte: "Vielleicht war das alles etwas viel für das erste Mal. Ich schlage vor, dass wir nach einer kurzen Pause noch eine Feedbackrunde machen, in welcher wir unsere Dialogerfahrungen reflektieren. Ich glaube das ist sinnvoll, obwohl oder gerade weil wir heute nicht sehr weit gekommen sind."

Renate selbst eröffnete dann auch diese Reflexionsrunde. Sie sagte: "Ich habe unseren Dialog etwas zwiespältig erlebt, das hat vielleicht etwas damit zu tun, dass diese Form des Dialoges für die meisten von uns neu und etwas unüblich ist. Wir sind, ich meine, ich bin einfach noch nicht so gewöhnt, dialogisch zu sprechen. Das braucht etwas Uebung, wenn man aus unserer Alltagswelt der Diskussionen kommt. Aber ich hatte in dieser Runde ein sehr gutes Gefühl, ich habe wahrgenommen, dass der Unterschied, also das Spezielle des Dialoges von allen erkannt worden ist. Ich habe gelesen und teilweise auch selbst erfahren, nicht nur hier, dass es am Anfang manchmal etwas harzig und teilweise etwas frustrierend ist. Aber das ist ja bei Skifahren auch so, die guten Schwünge im Tiefschnee gelingen nicht auf Anhieb, oder? Ich möchte Euch jedenfalls herzlich danken dafür, dass ihr die Einladung angenommen habt, und dafür, dass ihr mit mir zusammen durchgehalten habt."


 
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Lisa sagte ohne den Stab zu holen: "Ich finde, wir sind sehr weit gekommen. Ich habe jedenfalls viel über den Dialog gelernt, oder sagen wir, gehört. Ich muss wohl noch etwas nachdenken, bevor das Gelerntes wird. Aber mir hat gefallen, wie Du uns zum Dialog geführt hast, also dass wir vieles selbst erarbeiten mussten."

Peter sagte: "Ich gehe jetzt davon aus, dass ich jetzt ohne diesen Stab sprechen darf und keine Ich-Sätze machen muss." Renate nickte. Peter sagte: "Also dann, ich weiss echt nicht, wozu diese Regeln gut sein könnten. Bis jetzt habe ich nur gesehen, dass sie jedes vernünftige Gespräch verhindert haben. Da Du uns aber zu diesem Spiel eingeladen hast, wirst Du andere Erfahrungen haben. Bitte erzähle uns doch einmal, wie so ein Dialog denn verlaufen sollte - wenn die harzige Anfangsphase dann vorüber ist!"

Renate antwortete: "Ich hätte lieber, wir würden jetzt über unsere Erfahrungen sprechen, die wir hier jetzt zusammen gemacht haben. Jetzt gelten keine Dialogregeln, aber ich beobachte natürlich trotzdem mit einer Dialog-Brille, was hier gesprochen wird. Du, Peter, hast jetzt beispielsweise ganz deutlich nur mich angesprochen und mich zu etwas aufgefordert. Ist Dir bewusst, dass Du mich damit verhörst und bedrängst?"

Peter entgegnete: "Ach komm, ich bitte Dich um Verzeihung, aber jetzt lieferst Du doch genau diesen Psychologensch.., der jedes Gespräch kaputt macht, indem solange noch eine Metaebene thematisiert wird, bis niemand mehr weiss, worüber man sprechen wollte. Genau so habe ich eben den Dialog mit Deinen Regeln erlebt. Wenn mich jemand fragen würde, worüber wir den gesprochen haben, könnte ich keine rechte Antwort geben."

Mehrere Leute ergriffen gleichzeitig das Wort. Nach einem kurzen Wirrwarr sagte dann Lisa: "Also ich will jetzt nicht harmonisieren, ich will nur sagen, dass ich es auch etwas kompliziert finde, aber wir haben ja erst gerade angefangen. Mir gefällt der Sprechstab und die Idee mit der Klangschale, ich finde wir sollten das noch etwas weiter machen, wir könnten uns doch noch einige Male treffen."

Ich sagte: "Mir ist vor allem aufgefallen, wie diese paar Regeln, die, wie ich dachte, kaum der Rede wert sind, uns total in Beschlag genommen haben. Ich bin immer noch ganz konfus, irgendwie erschüttert. Die Bezeichnung Kindergarten passt irgendwie schon. Ich komme mir jedenfalls etwas kindisch vor; ich, nicht die Regeln." Und an Renate gerichtet fuhr ich weiter: "Ich verstehe auch nicht, warum wir den Dialog unterbrechen müssen, wenn wir über unserer Erfahrungen mit dem Dialog sprechen wollen. Das können wir doch auch im Dialog tun, oder wir haben es doch jetzt in gewisser Weise immer getan."


 
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Renate antwortete: "Ich habe gelernt, dass bewusste Schlussrunden nach dem Dialog sinnvoll sind, es geht auch darum, wieder bewusst in den Alltag zurück zu finden." Peter sagte sofort: "Ich glaube, jetzt noch mehr als vorher, ein Dialog muss nicht Regeln, sondern ein Thema haben." Renate antwortete ziemlich laut: "Hör mal Peter, ich habe Dich zu diesem Dialog eingeladen. Deine relativ skeptische Haltung und Dein Vorwissen, darüber, was ein Dialog wirklich ist, haben viel zum Verlauf des heutigen Abend beigetragen. Ich bitte Dich zu bedenken, dass das ein Wagnis für mich war und natürlich auch für euch. Vielleicht könnten wir diese Runde einfach damit beschliessen, dass alle sagen, was sie erlebt haben."

Die meisten schauten vor sich auf den Boden. Schliesslich sagte ich: "Mir ist noch nie so bewusst geworden wie in dieser Stunde, wie oft wir aneinander vorbei sprechen." Peter lachte laut. Deshalb fügte ich an: "Peter, ich glaube, das ist ein Stück weit Dein Verdienst, allerdings ist mir Dein Verhalten vor allem wegen diesen Dialogregeln so aufgefallen. Das tönt vielleicht etwas blöd, aber ich meine es ernst, ohne Deine ziemlich penetranten Störungen hätte ich den Sinn des Dialoges vermutlich viel weniger gut begriffen." An Renate gewendet fügte ich an: "Ich danke Dir, dass Du das mit uns riskiert hast. Ich überlege die ganze Zeit, ob es nicht einen etwas sanfteren Weg geben könnte, als einfach ins kalte Wasser zu springen. Vielleicht hätten wir vorgängig das Buch lesen sollen, von dem Du am Anfang gesprochen hast? Vielleicht wären wir dann besser vorbereitet gewesen, meinst Du nicht?"

Renate antwortete: "Ich glaube, dass das nicht ... Nein, eigentlich möchte ich jetzt keine Diskussion darüber, wie es besser gewesen wäre. Ich würde einfach gerne hören, was Ihr über die letzten zwei Stunden denkt und vor allem, was ihr gespürt oder erlebt habt."

Elmar, der so weit ich mich erinnern konnte, die ganze Zeit kein einziges Wort gesagt hatte, sagte: "Mir hat es ausserordentlich gut gefallen, wenn Du so etwas wieder anbieten würdest, würde ich sehr gerne wieder kommen." Lisa sagte: "Wie ich schon sagte, ich wäre auch gerne wieder dabei." Viel mehr habe ich dann von den anderen Teilnehmern auch nicht mehr gehört.

Renate zog schliesslich Bilanz: "Ich freue mich, dass ihr - oder jedenfalls einige von euch - gerne weitermachen würdet. Daraus lese ich, dass ihr einen Sinn im Dialog sehen könnt. Wir haben heute natürlich noch nicht sehr viel über den Dialog nachdenken können, weil wir ja zuerst mit der Neuheit dieser Idee überhaupt oder mit den vielen Regeln klarkommen mussten." Sie zeigte uns nochmals das Buch von David Bohm, auf welches sie sich bezogen hatte, und sagte: "Also ich habe dieses Buch erst gelesen, als ich schon einige Erfahrungen gesammelt habe. Ich glaube, das ist eine Frage des Typs, manche Leute lesen gerne, andere sind mehr an der Praxis orientiert. Ich weiss nicht, wie es bei Euch ist. Deshalb zeige ich Euch das Buch noch einmal. Aber ich setze in Dialogen natürlich nie voraus, dass jemand dieses oder irgendein Buch gelesen hat. Sowieso, weil ich ja auch anders zum Dialog gekommen bin. Es gibt immer verschiedene Wege." Sie gab das Buch Brigitte, die neben ihr sass und sagte: "Ihr könnt ja noch schnell reinschauen, wenn es euch interessiert. Ich will noch kurz etwas anderes sagen. Der Dialog macht ja eigentlich keine Voraussetzungen, aber natürlich müssen Menschen zu einem bestimmten Zeitpunkt an einem bestimmten Ort zusammenkommen. Ich war einfach so beeindruckt von der Idee, dass ich ohne grosse Pläne und Zielsetzungen einfach einmal anfangen wollte. Ich habe also nicht viel überlegt oder gar organisiert, sondern einfach alle Leute, die ich kenne, angesprochen und für heute eingeladen. Ich wusste natürlich auch nicht, wer dann wirklich kommt und was passieren würde. Wenn wir jetzt irgendwie weitermachen wollen, müssen wir das noch organisieren. Ich schlage vor, wir gehen noch etwas trinken und sprechen dort darüber, wie man das organisieren könnte. Wer jetzt nicht mehr mitkommen kann oder will, bekommt dann von mir ein Nachricht. Wir sollten jetzt hier ohnehin raus, weil der Raum nur bis halb zehn Uhr reserviert ist. Wenn niemand einen anderen Vorschlag hat, könnten wir in den Vorbahnhof gehen, der ist nahe beim Bahnhof."

* * *


 
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Im Restaurant Vorbahnhof waren wir dann noch sieben. Renate sagte: "Also ich habe mir wirklich noch nichts überlegt. Ich glaube, wir müssten eine gewisse Regelmässigkeit hineinbringen, damit es funktionieren könnte." Peter sagte: "Klar, auch die Organisation des Dialoges braucht Regeln. Und da würde sogar ich zustimmen. Wir könnten uns beispielsweise wöchentlich treffen, immer donnerstags, heute ging es ja allen." Ich war ziemlich erstaunt, dass ausgerechnet Peter soviel Dialog suchte. Elmar sagte: "Ich dachte eher an einmal im Monat, oder vielleicht auch jeden zweiten Monat, dafür sollten wir uns dann wirklich den ganzen Abend reservieren." Renate sagte: "Wir müssen vor allem auch einen Raum haben. Den Raum heute an der Uni habe ich ja nur bekommen, weil eine andere Veranstaltung ausgefallen ist. Und wir wissen noch nicht, wie viele Leute dann wie oft kommen. Die Organisation gibt schon etwas zu tun und zu überlegen. Der Dialog ist ganz einfach, aber die Organisation der Veranstaltung nicht. Oder eigentlich auch, aber man mus es eben tun."

Lisa fragte Renate: "Was ich eigentlich schon lange fragen wollte, wo bist denn Du im Dialog gewesen? Wie bist Du dazu gekommen und war das eine einmalige Geschichte wie heute, wenn wir nicht weiter machen würden?"

Renate antwortete: "Das war in München. Ich ging zu einer Konferenz über lernende Organisationen, weil wir ja eine solche Veranstaltungsreihe organisieren wollten. Also da waren ein paar berühmte Leute aus dem Umkreis von Peter Senge, die allerhand neue Methoden vorstellten, open space und solche Sachen und einer sprach eben über den Dialog. Das heisst, er sprach eben nicht darüber, sondern machte einen Workshop und das lief dann eigentlich ziemlich ähnlich wie heute bei uns. Damals erklärte ich mir den etwas umständlichen Anfang damit, dass die Leute ja an eine Konferenz gekommen waren und vielleicht etwas anderes erwartet hatten. Aber mittlerweile weiss ich, dass die Leute immer etwas anderes erwarten, egal wohin sie kommen. Der Workshop in München war dreiteilig. Den ersten Teil, wohl eine Einführung habe ich verpasst. Der zweite Teil war eine praktische Uebung, um das Dialogprinzip kennenzulernen, und am Nachmittag gab es dann einen Dialog zum Thema Kommunikation in 'Lernenden Organisationen'. Es ging darum, Kommunikationsmodelle zusammenzutragen, wobei eben keine fertigen Modelle präsentiert wurden, sondern kollektiv Modelle entwickelt wurden. Wenn ihr das Buch von David Bohm lest, seht ihr schnell, dass die wesentliche Funktion des Dialoges in einem kollektiven Denkprozess besteht, der weit über die individuellen Möglichkeiten der Beteiligten hinausgeht. Mich interessierte aber der Dialogprozess plötzlich viel mehr als das, worüber wir sprachen. Und das ging nicht nur mir so. Am Schluss dieses Seminarblockes sagten einige der Teilnehmenden, dass sie gerne noch einen weiteren Dialogteil machen möchten. Das war für die Organisatoren etwas kompliziert, weil sie schon die ganze Zeit mit Referaten verplant hatten. Schliesslich trafen wir uns am späten Abend nochmals zu einer Dialogrunde. Dort wurden dann aber vor allem die Hintergründe erklärt, es war eigentlich kein Dialog mehr, eher ein Vorlesung. Aber interessant war es schon. Jedenfalls habe ich dann das Buch gekauft, nur gelesen habe ich es dann immer noch nicht."


 
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Ich fragte Renate: "Und wie bist Du auf die Idee gekommen, mit uns einen Dialog zu versuchen? Ich weiss ja noch nicht, was in dem Buch steht, aber ich finde wunderbar, dass Du das mit uns so informell einfach gemacht hast. Wird das im Buch so vorgeschlagen oder haben die in München das so vorgeschlagen?"

"Ich weiss jetzt nicht mehr, wer was gesagt hat. Das gehört wohl mit zum Dialog. Ich weiss nur noch, was ich behalten habe, und dass ich eben motiviert war und bin, den Dialog selber weiter zu erforschen. Vor München habe ich nie etwas von solchen Dialogen gehört, aber seit ich weiss, dass es diesen Dialog gibt, scheint es ihn überall zu geben. Ich besuchte jedenfalls noch weitere Dialogveranstaltungen, die aber ziemlich verschieden waren, obwohl sie sich auch auf das Buch von David Bohm bezogen. Erst dann habe ich angefangen, im Buch herumzulesen."

Peter sagte: "Ein bestimmtes Potential sehe ich in diesem Verfahren schon. Aber mir scheint, wir müssen das nicht erforschen, wenn es andere schon getan haben. Ich schlage vor, dass Du nächstes Mal einen kleinen Vortrag über das machst, was Du schon weisst, aus dem Buch und von der Veranstaltung. Das wäre vermutlich ziemlich viel effizienter, als was wir heute gemacht haben."

Elmar sagte: "Effizienter schon, aber wohl nicht so effektiv. Vorträge haben mich jedenfalls noch nie so reingenommen, wie jetzt diese kleine und nicht einmal sehr geglückte Erfahrung."

Renate sagte: "Also mir ist es eben auch so gegangen, damals im München. Von den Vorträgen weiss ich praktisch nichts mehr, obwohl es gute Vorträge waren. Aber dieser Workshop hat mich verändert und das ist immer noch sehr deutlich in meinem Gedächtnis. Es hat etwas gemacht mit mir. Danach konnte ich sogar den Vortrag über den Dialog halbwegs so anhören, dass ich noch einiges davon weiss."

Peter sagte: "Also ich glaube bei ganz vielen Menschen ist das anders. Für uns ist es effizient und effektiv, wenn wir zuerst eine Einführung bekommen und dann vielleicht etwas probieren können. Sonst müsste man ja gar keine Vorträge machen."

Renate sagte: "Ja, vielleicht ist es für verschiedenen Menschen sehr verschieden. Ich kann nur über mich sprechen. Und ich habe es vorgezogen, mit Euch einen Dialog anzufangen, statt Euch zu erzählen, was ein Dialog ist. Wir sind ja in der glücklichen Lage, dass es ein Buch gibt, in welchem alle, die das effizient finden, nachlesen können. Wir haben beide und noch weitere Wege. Ich musste für Euch nicht den richtigen Weg finden, weil Ihr selber am besten wisst, was Ihr braucht, ich musste mich nur für den heutigen Anlass entscheiden. Und dabei habe ich ganz auf mich gehört, also nicht auf statistische Vorstellungen darüber, was für die Menschen gut ist. Wenn Du weiter mitmachen willst, kannst Du", sagte sie an Peter gerichtet, "ja mal schauen, wie sich das Buch zusammenfassen liesse, oder was wir allenfalls falsch oder nicht so effizient machen. Ich kann Dir das Buch gerne ausleihen". Sie kramte in ihrer Tasche und legte dann das Buch auf den Tisch. Sie schien nicht sehr an diesem Buch zu hängen.


 
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Peter griff nach dem Buch und sagte: " So habe ich es eigentlich nicht gemeint. Aber ich kann ja mal anfangen zu lesen und wenn es mich dann packt, erzähle ich Euch gerne etwas davon. Aber versprechen will ich nichts."

Lisa sagte: "Ich will gar keine Vorträge hören. Wenn Du gesagt hättest, dass Du heute abend einen Vortrag gibst, wäre ich nicht, oder nur Dir zu liebe gekommen. Aber ich würde gerne noch etwas über München hören und wie es dort gelaufen ist. Vielleicht können wir ja davon Nutzen ziehen für unseren Dialog. Wir machen doch weiter?"

Renate antwortet: "Von München erzähle ich Dir später, oder wenn es ich ergibt, in einem Dialog. Für unseren Dialog bräuchten wir einen Termin und einen Raum. Ich glaube, beides ist nicht ganz einfach, aber wir fangen wohl besser mit dem Raum an. Ihr habt ja gesehen, wir brauchen ein paar Stühle und weiter nichts. Wo könnten wir uns treffen? Hat jemand eine Idee?

Es gab viele Ideen und Vorschläge und wir einigten uns darauf, monatlich eine Dialogveranstaltung durchzuführen. Elmar sagte, er würde einen Raum besorgen. Zur Not könnten wir uns im Sitzungszimmer seiner Firma treffen, er werde aber sicher noch etwas Geeigneteres finden. Jeder von uns sollte etwas Reklame machen. Peter sagte: "Also ich komme gerne, aber wie ich dafür Reklame machen könnte, ist mir schleierhaft. Soll ich den Leuten erzählen, dass wir einen Dialog über Dialogregeln machen?" Renate sagte: "Also ich mache es so wie bei Euch. Ich lade einfach alle ein, die ich kenne, wenn ich ihnen begegne. Wenn sie fragen, worum es geht, sage ich, das würden sie eben sehen, wenn sie kommen. Ich sage einfach, dass es mir gefällt, eben wie ich es bei euch gemacht habe. Das habe übrigens nicht ich erfunden. Es passt meiner Meinung nach perfekt zum Dialog, da man ja nicht voraus festlegen kann, wie der Dialog sein wird. Das ist eben das Risiko einer Begegnung. Oder das Vertrauen, das wir geben und bekommen im Dialog."

Ich sagte: "Ich kann einen e-mail-Versand machen, wenn ihr mir passende Adressen schickt, die ihr habt. Ich mache dann einfach eine Art Rundschreiben mit dem Ort und Termin und schreibe, dass alle eingeladen sind". Lisa sagte: "Dann sind wir plötzlich hundert Leute." Renate sagte: "Das Optimum soll bei etwa vierzig Teilnehmenden liegen, aber ich befürchte eher, dass niemand kommt, als dass so viele Leute kommen. Ich finde die Idee mit den e-mails gut." Wir verblieben eigentlich recht unverbindlich. Aber in der darauffolgenden Zeit bekam ich hin und wieder mail-Adressen und dann eine Ankündigung von Elmar, der einen Bibliotheksraum an einem Institut einer Fachhochschule resevieren konnte, weil er dort zeitweise unterrichtete, und mit Renate einen monatlichen Termin abgesprochen hatte.


 
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Fragen im Dialog

Wir trafen uns etwa einen Monat nach der ersten Dialogveranstaltung in dieser Bibliothek, die offenbar auch sonst als Arbeitsraum genutzt wurde. Elmar hatte etwa zwanzig Stühle in einen Kreis gestellt und Renate brachte ihre Dialogutensilien wieder mit und legte sie in die Mitte des Kreises. Elmar sagte laut, weil die meisten noch in kleineren Gruppen standen: "Lasst uns anfangen." Wir setzten uns. Viele Stühle blieben leer, es waren nur wenige mehr gekomen als das erste Mal, aber ein paar Gesichter waren neu. Renate sagte: "Komm wir stellen die leeren Stühle weg". Als wir im Kreis sassen, sagte Elmar: "Wie ihr seht, haben wir einen Ort und eine Zeit für einen Dialog gefunden. Ich freue mich, dass es geklappt hat."

Renate holte den Sprechstab aus der Mitte, setzte sich wieder und sagte: "Auch ich begrüsse Euch herzlich zum Dialog. Wie ich sehe, sind ein paar neue Leute da, das freut mich sehr. Ich habe noch ein paar Leute, die auch interessiert sind, aber den Termin nicht frei hatten. Aber das wäre wohl bei jedem Termin so. Ich sage zuerst noch einmal ganz kurz, worum es in diesem Dialog geht, aber ich will keine eigentliche Einführung machen. Ich schlage eher vor, dass ihr alle gerade anfügt, was ihr für wichtig hält. Also. Zuerst das, was uns letztes Mal und vielleicht auch heute viel zu schaffen gegeben hat: Wir haben Dialogregeln, wir haben drei, später gibt es noch mehr. Erstens sprechen wir in die Mitte des Kreises, also nicht zu einzelnen Personen, die hier sind. Zweitens spreche ich in der ich-Form, ich spreche über mich und über meine Wahrnehmungen und nicht über andere Personen und nicht über die Wirklichkeit. Und drittens darf nur sprechen, wer diesen Sprechstab in den Händen hat." Dabei hielt sie den Stab hoch. "Ich will jetzt diese Regeln nicht genauer erläutern." Sie schaute die Neuen an und sagte: "Vielleicht habt ihr ja schon etwas mehr darüber gehört und wenn nicht, macht das auch nichts, ihr merkt dann schon wie es geht. Eigentlich ist es für alle noch neu. Ich finde auch wunderbar, dass wir diesen Raum benutzen können. Ach, das noch. Ich habe mit Elmar abgemacht, dass wir uns vorerst einmal einmal pro Monat treffen, immer am zweiten Dienstag im Monat. Wir haben das mal so festgelegt, aber wir können das jederzeit ändern, Raum, Zeit und Häufigkeit, alles - wenn es uns und zusammenpasst. Und Rolf verschickt jeweils Einladungsmails. Und bringt Leute mit, je mehr desto besser."


 
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Sie hielt den Sprechstab noch etwas in den Händen ohne etwas zu sagen. Als sie ihn zurücklegte, schoss Peter förmlich nach vorne. Er packte den Stab und sagte noch im Stehen: "Renate hat mir ja letztes Mal aufgetragen, das Buch von Bohm zu lesen und hier dann eine kurze Zusammenfassung zu geben. Ich glaube es ist sinnvoll, wenn ich das gleich zu Beginn mache, dann sind auch die Neuzuzüger auf dem Stand der Dinge." Er schaute in die Runde und schien auf Zustimmung zu warten. Lisa ging in die Mitte und schlug ziemlich kräftig auf die Klangschale und setzte sich wieder. Peter stand immer noch und schien ziemlich verwirrt. Er schaute Renate an und wartete. Ich konnte nicht erkennen, ob er auf das Ausklingen der Klangschale wartete oder darauf, dass Renate etwas sagen würde. Der Klang der Schale verschwand, ohne dass ich erkennen konnte, wann er nicht mehr da war. Ich glaube, wir alle schauten auf Renate, sie sagte aber nichts. Schliesslich sagte Peter: "Ich verstehe jetzt wieder nicht, was hier läuft. Soll ich nun meine kurze Einführung in das Buch geben oder nicht?" Lisa sagte: "Lieber Peter, ich verletze jetzt wieder einmal alle Regeln, ich spreche zu Dir und ich habe den Sprechstab nicht und ich spreche nicht über mich. Du musst den Sprechstab in die Mitte legen, wenn die Klangschale angeschlagen wird. Und absitzen solltest Du ohnehin. Dann könnte jemand von uns ..". Peter zuckte die Achseln, legte den Stab zurück und setzte sich. Niemand holte den Stab. Wir sassen im Kreis und schwiegen.

Nach wirklich langer Zeit, es muss mehr als eine Minute vergangen sein, nahm Elmar den Stab und sagte ohne sich zu setzen: "Ich finde, wer die Schale anschlägt, sollte nachher auch sagen, warum er das getan hat. Vielleicht habe ich das mit der Schale auch noch nicht richtig verstanden, dann sollte Renate uns noch etwas über diese vierte Spielregel aufklären." Er legte den Stab zurück und setzte sich. Lisa holte den Stab ohne Eile und setzte sich bevor sie sagte: "Ich habe das mit der Klangschale so verstanden: Wenn mich etwas ernsthaft stört, kann ich die Schale klingen lassen. Das ergibt dann eine Art time-out, in welcher ich darüber nachdenken kann, was mich stört und weshalb. Und unbescheiden wie ich nun einmal bin, glaube ich, dass die andern dann auch darüber nachdenken können, was gerade läuft." Sie legte den Stab zurück.

Peter holte den Stab und betrachtete ihn ganz demonstrativ. Dann sagte er: "Erstens habe ich von einem solchen Stab im Buch von Bohm gar nichts gelesen und von der Klangschale auch nichts. Ich glaube, das Buch richtet sich mehr an Erwachsene als an Kindergartenschüler. Ich weiss gar nicht, woher du die Idee mit diesem schlauen Sprechstab hast, aber vielleicht hat er ja am Anfang einen bestimmten Sinn. Das will ich nicht beurteilen. Ich wollte eigentlich nur erzählen, dass mir das Buch ziemlich anders vorgekommen ist als unsere Dialogveranstaltung, eben erwachsener. Jetzt geht es aber um etwas anderes. Wenn mich jemand beim Sprechen unterbricht und sei es mit einem Gong, dann wüsste ich schon gerne warum. Im Anschlagen einer Klangschale kann ich gar nichts von einem Dialog erkennen, nicht das kleinste bisschen. Dafür sehe ich ein paar ganz praktische Probleme in bezug auf die Organisation unserer Veranstaltung. Ich kann mir nicht vorstellen, wie wir hier weiterkommen wollen, wenn wir uns weiterhin an unsere Dialogregeln halten." Vielleicht bekam er keine Antwort, weil er den Stab nicht freigab, aber ich weiss nicht, ob jemand geantwortet hätte, wenn er den Stab hingelegt hätte. Nach einer kleinen Pause fuhr er selbst weiter: "Vielleicht sollten wir jeweils vor dem Dialog in einer, wie soll ich sagen, normalen Sprache abmachen, wie wir den Abend gestalten wollen. Also ich bin davon ausgegangen, dass ich heute zuerst ein kurzes Referat über das Buch halte. Ich gehe eigentlich immer noch davon aus, weil wir das so abgemacht haben." Er schaute in die Runde. "Also, soll ich jetzt anfangen?"


 
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Lisa ging wieder zur Klangschale. Bevor sie den Schlagstock aufheben konnte, drückte ihr Peter den Sprechstab in die Hand und sagte: "Also bitte, sag jetzt, was Du willst." Lisa nickte leise und setzte sich. Sie sagte: "Ich bin hier, weil ich an einem Dialog teilnehmen will, nicht weil ich einen Vortrag über einen Dialog hören will. Ich habe mir das Buch von Bohm auch gekauft, aber ich bin beim Lesen rasch stecken geblieben. Das ist offenbar nicht mein Weg. Ueber dieses Buch wäre ich niemals zum Dialog gekommen. Vielleicht muss ich jetzt sagen, zu einem Dialog, wie ich ihn mir jetzt vorstelle, aufgrund unserer ersten Veranstaltung vor vier Wochen. Ich sage nochmals, was ich mir vorstelle. Ich stelle mir vor, dass wir hier zusammen sprechen und uns dabei an die Regeln halten, die wir abgemacht haben. Seit meiner Erfahrung letztes Mal habe ich mir fast in allen Gesprächssituationen überlegt, wie es gehen würde, wenn wir uns an diese Regeln halten würden. Ich weiss noch nicht, wo das hinführen würde, aber alleine schon die Beobachtungen, die ich mit meiner neuen Sensibilisierung mache, sind ungemein spannend. Irgendwie ist es verrückt, wie wir sprechen. Das erinnerte mich an Heiners Bericht." Sie stand auf um den Stab wieder hinzulegen. Dann sagte sie zu Peter: "Ich kann es natürlich auch zu Dir direkt sagen. Ich will keinen Vortrag hören und ich kann mich überhaupt nicht erinnern, dass wir so etwas abgemacht haben." Sie setzte sich wieder und sagte: "Es kann ja sein, dass ihr etwas abgemacht habt, wovon ich nichts weiss. Wenn es heute einen Vortrag gibt, gut, dann gehe ich einfach wieder nach hause. Das ist kein Problem, dann komme ich einfach nächstes Mal wieder. Ich hätte nur gerne, wenn Du im mail schreiben würdest, ob wir einen Dialog machen oder ob es einen Vortrag gibt." Sie schaute dabei mich an.

Ich sagte: "Ich weiss auch nichts von einem Vortrag" und merkte, dass ich den Sprechstab nicht hatte. Das war mir peinlich, aber ich sagte nichts mehr, auch keine Entschuldigung.

Renate sagte: "Hört mal, wir sind kein Kindergarten, das sieht man auch daran, dass wir nicht einmal die einfachsten Kindergartenregeln einhalten können. Aber uns zwingt ja niemand irgendwelche Regeln einzuhalten. Ich will das noch einmal ganz klar sagen: Wir geben uns die Regeln und wir können die Regeln jederzeit wieder abschaffen. Wir können das gemeinsam tun, oder ich kann es für mich selbst tun. So wie jetzt gerade. Ich habe keinen Sprechstab, aber ich spreche, weil ich es jetzt gerade wichtiger finde, als Regeln einzuhalten. Ich werde später genau darüber nachdenken, was ich so wichtig finde, dass ich die Regeln über Bord werfe. Es muss wohl sehr wichtig sein oder mir sehr wichtig scheinen. Lasst mich nochmals sagen, worum es mir in diesem Dialog hauptsächlich geht. Ich will hier erfahren, ob wir wie Menschen miteinander sprechen können oder ob das unmöglich ist, sobald es um ein noch so kleines Problemchen geht. Die Regeln sind gar keine Regeln oder seht ihr etwa einen Schiedsrichter oder gar einen Polizisten? Wir geben uns nur ein paar Regeln, damit wir uns im Gespräch bewusst bleiben, dass wir wie Menschen miteinander sprechen wollen." Sie wurde ziemlich laut, und als sie aufhörte, war es plötzlich ganz still.


 
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Peter räusperte sich und sagte dann leise: "Ok, ich weiss einfach nicht, was wir jetzt machen, respektive wie wir klären, was wir machen. Ich habe jetzt verstanden, dass nicht alle am Buch von Bohm interessiert sind, obwohl das die Grundlage unseres Dialoges bildet. Ich finde, wenn es um ganz praktische Fragen geht, sind die Regeln, die wir jetzt gerade haben, einfach ganz unpraktisch, weil man nicht schnell fragen und antworten kann."

Heinz, der das erste Mal dabei war, sagte: "Ich verstehe überhaupt nicht, worum es hier geht, ich verstehe gar nichts. Was hat das alles mit einem Dialog zu tun? Warum kann man in einem Dialog nicht einfach fragen und Antwort bekommen? Und was willst Du denn überhaupt fragen? Für mich ist das hier wie in einem ..." Dabei ververdrehte er seine offene Hand vor seinem Gesicht.

Peter klärte auf: "Gemäss unseren Dialogregeln , die ja schon genannt wurden, sprechen wir immer in die Mitte, nicht zu einer Person. Ich kann dich deshalb nicht fragen, wie du die Sache siehst oder was du denkst. Das wäre ein Gespräch zwischen uns statt ein Gespräch mit allen. Und ausserdem dürfte ich nur sprechen, wenn ich diesen Sprechstab habe." Er zeigte auf den Stab in Lisas Hand, worauf ihn Lisa in die Mitte legte. Peter sagte: "Ich könnte Dir also aus mehreren Gründen nicht antworten." Heinz schüttelte den Kopf und sagte: "Ich glaube, das ist mir eine Nummer zu hoch".

Elmar sagte: "Wir sprechen jetzt ja ohne unsere Regeln. Mir scheint, es gab ein Missverständnis. Peter hat einen kleinen Vortrag vorbereitet, und Lisa wusste nichts davon. Ich übrigens auch nicht, aber das ist jetzt ja egal. Die Frage ist für mich, wie man in einem Dialog mit solchen Missverständnissen umgehen kann. Das Problem ist tatsächlich, dass man mit unseren Regeln nicht einfach fragen kann, was der andere verstanden oder nicht verstanden hat. Und selbst wenn man das noch fragen könnte, dauert es eben extrem lange bis das kleinste Missverständnis geklärt ist, weil wir ja mit dem Sprechstab absichtlich das Gespräch extrem verlangsamen. Mir scheint, wir müssten noch zwei oder drei Regeln hinzunehmen, um solche Situationen Ausnahmen machen zu können."


 
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Lisa und Renate riefen gleichzeitig: "Nein!" Sie schauten sich an und lachten. Renate machte eine Geste, um Lisa das Wort zu geben. Lisa stand auf und holte den Stab. Sie hielt ihn gebieterisch in die Höhe, wohl um uns an die Regeln zu erinnern. Als sie wieder sass, sagte sie: "Wenn wir uns wegen diesen drei Regeln nicht verständigen können, dann steht es ziemlich schlimm um uns. Und ich befürchte fast, es steht wirklich ziemlich schlimm. Für mich war der Dialog schon letztes Mal eine riesige Entdeckung über unsere Fähigkeiten zu kommunizieren. Oder auch über unsere, ich meine, über meine Unfähigkeit. Was so ein kleiner Sprechstab mit uns anstellen kann. Das finde ich ungeheuer. Ich dachte, dass es uns ganz leicht fallen würde, einander nicht ins Wort zu fallen. Ich verstand zuerst nicht, wozu dieser Sprechstab gut sein könnte. Aber jetzt sehen wir, ich meine ich, dass wir diesen Sprechstab brauchen. Ich schlage euch vor, dass wir jetzt wieder mit dem Dialog weitermachen und herausfinden, ob wir dialogfähig sind, und zwar auch dann, wenn diese Kindergartenregeln gelten." Sie hielt den Stab immer noch relativ hoch und schaute alle der Reihe nach an. Dann fügte sie an: "Und vor allem, wie Renate sagte, auch dann, wenn wir ein Problem oder ein Missverständnis haben. Dialogfähigkeit zeigt sich ja eigentlich nur dann. Wenn alles gut läuft, braucht man ja keine speziellen Fähigkeiten." Dann legte sie den Stab mit einem gewissen Nachdruck wieder in die Mitte.

Renate nahm ihn ohne Eile auf: "Ich wollte das gleiche vorschlagen. Wir haben zwei Möglichkeiten, wir können diskutieren oder dialogisieren. Mich interessiert, wie wir im Dialog miteinander umgehen. Ich würde sehr gerne im Dialog verweilen und schauen, was uns das bringt. Diese Veranstaltung hat für mich den Sinn, praktische Erfahrungen mit dem Dialog zu machen, Diskussionen und auch Vorträge kenne ich schon ziemlich gut. Mir scheint, dass die Verlangsamung, die wir mit diesem Stab üben, kein Grund von Problemen sein kann, ausser natürlich von Zeitproblemen. Langsam kommen wir nicht so schnell vorwärts, aber dafür vielleicht sogar weiter, wer weiss. Ich merke durch die Verlangsamung immer besser, was ich in der sogenannt normalen Hektik des Alltages alles unter den Teppich kehre, hunderte von kleinen Missverständnissen, so dass ich am Schluss rein gar nichts verstanden habe. Die Verlangsamung macht mir allenfalls das grosse Problem, dass ich Missverständnisse viel leichter erkenne und deshalb nicht so tun kann, als ob alles klar wäre. Ich will jetzt nochmals langsam und laut überlegen, was uns hier bisher so sehr beschäftigt hat. Offenbar hat Peter eine Abmachung im Kopf, wonach er das Buch von David Bohm zusammenfassen soll. Ich weiss natürlich nicht mehr genau, was ich vor einem Monat gesagt habe, aber ich weiss ganz sicher, was ich auf keinen Fall sagen wollte. Ich wollte nie einen Vortrag über das Buch hören, zumal ich es schon gelesen habe. Ich wollte euch das Buch nicht einmal empfehlen, ich wollte nur sagen, dass David Bohm solche Dialogveranstaltungen gemacht und in seinem Buch seine Hintergründe beschrieben hat. Ihr erinnert euch vielleicht, dass ich euch von dem Buch erst im Nachhinein erzählt habe. Ich glaube auch, dass das im Sinne des Buches ist. Wir haben unsere Dialogideen selbst entwickelt. Ich will die grosse Bedeutung von David Bohm kein bisschen schmälern, aber weder er noch sein Buch ist für unseren Dialog verantwortlich. Wir machen unseren Dialog." Sie wandte sich an Peter und fuhr weiter: "Ich wollte nicht, dass du das Buch liest, geschweige denn, dass du es für uns zusammenfasst. Aber ich wollte natürlich auch nicht, dass du das nicht tust. Ich wollte weder das eine noch das andere. Denn dazu habe ich doch eigentlich gar nichts zu wollen. Was ich dagegen sehr gerne hätte, wäre, wenn du, und ich meine jetzt natürlich uns alle, also wenn du im Dialog einfach erzählst, was für dich wichtig ist. Und das könnte ohne weiteres ein Buch sein, das du gelesen hast. Und natürlich könnte es auch das Dialog-Buch sein. Der Punkt ist, mich interessiert im Dialog, was dich interessiert. Aber ohne Abmachung und ohne Auftrag. Hier gibt es keine Pflichten, aber auch keinerlei Fahrpläne und gesetzte Programme, also insbesondere keine abgemachten Vorträge. Alle sagen, was sie im Moment sagen wollen." Sie drehte sich zu Lisa und fuhr weiter: "Ich war sehr glücklich darüber, wie Du unsere Klangschale benutzt hast, anstatt einfach zu reklamieren. Das hat mir grossen Eindruck gemacht, weil genau dazu ist diese Schale ja da. Sie hat eine Funktion in unserer Veranstaltung. Das war prima umgesetzt, ein sehr schönes Beispiel, also für mich, in meinen Augen, weil ich es gerne so gemacht hätte. Ich habe nämlich schon studiert, wie ich Peter unterbrechen soll und dabei das naheliegenste, eben unsere Klangschale nicht gesehen, obwohl sie nicht nur vor meinen Augen stand, sondern sogar von mir mitgebracht und aufgestellt wurde." Sie stiess einen Seufzer aus und ihr Körper entspannte sich sichtbar. Erst nach einiger Zeit schien sie zu realisieren, dass sie den Stab noch in den Händen hatte. Sie legte ihn zurück.


 
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Heinz nahm den Stab: "Ich glaube, ich habe jetzt wenigsten ein bisschen verstanden, worum es geht. Ich hätte aber noch ein paar Fragen. Wen oder wie soll ich jetzt fragen? Einfach in die Mitte?"

Ich hatte mir schon nach dem ersten Dialog ziemlich lange überlegt, was Fragen sind. Und jetzt hätte ich Heinz sehr gerne geantwortet. Ich realisierte, dass ich dabei einen kleinen Vortrag halten würde. Renate hatte ja ausdrücklich gesagt, dass im Dialog Vorträge ohne weiteres Platz hätten, aber jetzt war ich hin und her gerissen. Wäre mein Beitrag nicht ein kleiner Monolog?

Während ich abwog, holte Peter den Stab: "Ja, das mit den Fragen liegt mir auch sehr am Herzen. Ich kann ja nicht gut in die Mitte fragen, 'Wie hast du das gemeint?'." Elmar nahm den Stab aus den Händen von Peter und sagte: "Ich glaube, wir sollten das mit den Fragen klären. Ich mache einmal einen Anfang, ich sage, wie ich es sehe." Er schaute in die Runde, als ob er Zustimmung suchte. Dann sagte er: "Fragen scheinen mir der wichtigste Motor jedes Gespräches zu sein. Ich kann mir ein Gespräch ohne Fragen fast nicht vorstellen. Aber ich unterscheide zwischen verschiedenen Fragen. Ich nehme einmal die Frage von Peter. Wenn ich frage: 'Wie hast du das gemeint?' spreche ich logischerweise eine einzelne Person an. Und das geht in unserem Dialog eben nicht. Aber wenn ich etwas nicht verstanden habe, kann ich das natürlich kundtun, ohne eine bestimmte Person anzusprechen. Ich kann einfach sagen, dass ich dieses oder jenes nicht verstehe. Dann ist meine Frage implizit und sie kann an alle gerichtet sein."

Peter nahm nun seinerseits den Stab wieder aus der Hand von Elmar, der sich noch gar nicht gesetzt hatte, und sagte: "Das wird jetzt interessant. Ich bin gespannt, wie weit wir hier mit dem Dialog kommen. Ich ...". Die Klangschale klirrte mehr als dass sie klang. Lisa hatte wie wild drauf geschlagen. Peter verdrehte seinen Augen und sagt: "Das dachte ich mir. Es geht nicht."

Renate stand auf und sagte: "Ich spreche als Moderatorin und ich weiss, dass ich den Sprechstab nicht habe. Hört mal zu. Im Buch von David Bohm kann man lesen, dass man vernünftigerweise den Begriff Dialog und das Verfahren erklären soll, bevor man einen Dialog beginnt. Ich habe solche Erklärungen im Buch gelesen und auch an Dialogveranstaltungen gehört. Sie haben mir aber nicht viel gegeben, deshalb habe ich darauf verzichtet. Ich könnte natürlich einen kleinen Vortrag halten, der da hiesse, Was ist ein Dialog. Oder Peter könnte einen Vortrag halten, der hiesse, Was steht im Buch von David Bohm. Aber mir bringt das alles nichts. Es bringt abstraktes Wissen in den Intellekt, aber nichts für meine Intelligenz. Vorträge anhören oder vortragen macht mich nicht intelligenter, sondern im besten Fall intellektueller. Aber verschiedene Menschen sind halt verschieden. Deshalb will ich jetzt doch etwas klären im Sinn von klarstellen. Ich will an einer Dialogveranstaltung teilnehmen. Aber nicht an irgendeiner Dialogveranstaltung, sondern an einer Dialogveranstaltung, an welcher sich alle an Regeln halten. Ich weiss selbst, wie schwer es ist, sich an Regeln zu halten. Für mich ist kein Problem, wenn jemand eine Regel verletzt. Aber wenn ihr lieber ein Gespräch ohne Regeln führen wollt, dann ist das etwas anderes, etwas, was ich jetzt hier nicht will. Ich brauche Euer Einverständnis, dass wir hier einen Dialog üben wollen und dass ihr Euch deshalb an die Regeln hält. Wir wollen so erleben, was geht und was weshalb nicht geht. Wenn ich von vornherein weiss, dass ein Dialog nicht möglich ist, dann muss ich es nicht versuchen. Aber ich will es hier nicht nur versuchen, sondern bewusst üben. Ich will herausfinden, was möglich ist."


 
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Peter unterbrach sie: "Liebe Renate, lass mich nur einwenden, dass Du nicht gerade dialogisch sprichst: ich will, ich will, ich will".

Renate antwortete: "Ich sagte ja, dass ich jetzt moderiere, aber du hast recht, ich moderiere auch nicht. Ich muss etwas klären. Ich bin immer noch der Ansicht, dass es vor einem Dialog keinen Vortrag braucht, aber ich meine, dass es ein Einverständnis braucht. Beim Fussballspielen gelten auch Regeln, da kann man auch nicht unterwegs einfach die Hände nehmen. Ich will euch nichts befehlen oder aufdrängen, ich will an einem Dialog mit Regeln teilnehmen. Ich schlage vor, wir machen jetzt eine kurze Pause und alle überlegen sich, was sie wollen. Dann sehen wir weiter." Alle blieben sitzen.

Nach einer knappen Minute sagte Eva, die wie Heinz zum ersten Mal dabei war: "Ich staune sehr. Ich hatte keine klare Vorstellung, als ich hierher gekommen bin. Lisa hat mir zwar vom letzten Mal ein wenig erzählt, aber ich konnte mir nicht vorstellen, dass sich das heute alles noch einmal wiederholt. Ich verstehe gar nicht, wo das Problem ist. Vielleicht braucht das Verfahren eine Moderation. Beim Fussball gibt es ja auch einen Schiedsrichter, weil sich die Fussballer nicht an die Regeln halten können oder wollen." Sie lachte und fügte an: "Ich weiss gar nicht, wie das beim Frauenfussball ist. Braucht es dort auch einen Schiedsrichter?" Dann fuhr sie weiter: "Mir scheint ziemlich klar, dass wir uns zu diesem Dialogverfahren getroffen haben und auch damit einverstanden sind. Vielleicht sollten wir aufhören, über die Regeln zu sprechen und dafür einen Schiedsrichter wählen, der aufpasst und gelbe Karten verteilt. Ich gebe mir mal eine gelbe Karte, weil ich jetzt ohne den Stab gesprochen habe. Ich schlage vor, ab sofort gelten wieder die Regeln."

Peter legte den Stab zurück und sagte: "Einverstanden." Der Stab blieb ziemlich lange liegen, dann nahm Elmar den Stab und sagte: "Ich will nicht über Regeln sprechen, aber die Frage mit der Frage beschäftigt mich eben sehr. Nicht nur hier, sondern generell. Und auf dieses Problem bin ich eben doch wegen dieser Regel gestossen. Ich versuche jetzt nicht an irgendwelche Regeln zu denken, sondern einfach zu erzählen, was ich mir zur Frage überlegt habe. Ich fasse mich kurz. Wie ich schon sagte, ist mir bewusst geworden, dass es verschiedenen Fragen gibt und dass Fragen ganz verschiedene Funktionen haben. Am besten hat es für mich Heinz von Foerster auf den Punkt gebracht. Er unterscheidet eigentliche und uneigentliche Fragen. So wie ich den Dialog bis jetzt verstanden habe, sind eigentliche Fragen erlaubt, aber uneigentliche nicht. Aha, ich muss natürlich sagen, was eigentliche Fragen sind. Also, bei eigentlichen Fragen weiss der Fragende die Antwort nicht, bei uneigentlichen Fragen weiss er sie. Beispielsweise wenn der Lehrer den Schüler etwas frägt, ist das praktisch nie eine Frage, weil er nicht an der Antwort interessiert ist, sondern nur prüfen will, ob der Schüler die Antwort weiss. Ich kann mich also im Dialog immer fragen, ob meine Frage echt ist. Oft kann das natürlich nur ich selbst wissen. Aber wenn meine Frage echt ist, kann ich sie gut in die Mitte stellen. Ich habe noch ein paar Unterscheidungen, die mir wichtig scheinen, aber ich will ja keinen Vortrag halten. Ich wollte nur mal einen Anfang machen." Er legte den Stab zurück.


 
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Peter stand auf, aber er winkte ab und setzt sich wieder. Ich holte den Stab und sagte: "Ich habe auch über die Frage nachgedacht. Ich bin aber zu einem anderen Resultat gekommen, das ich euch vortragen, sozusagen auf Buffet stellen möchte. Ich habe im Verkaufstraining gelernt, dass ich als Verkäufer immer fragen muss. Dabei muss ich natürlich eigentliche Fragen stellen und mich für die Antworten auch interessieren. Ich muss herausfinden, was der Kunde will und braucht. Meine Frage ist echt, aber ich verfolge damit ein bestimmtes Interesse hinter der Frage. Ein andres Beispiel. Wenn mich ein Polizist bei einer Verkehrskontrolle frägt, wieviel ich getrunken habe, weiss er es ja auch nicht, aber auch er verfolgt damit nicht sein Interesse. Oder sagen wir, ein strategisches Interesse, das an seine Rolle gebunden ist. Ich glaube, es geht im Dialog darum, dass ich keine solchen Fragen stellen darf, keine strategischen Fragen, keine Verhörfragen wie ein Staatsanwalt. Ich darf nur fragen, was mich interessiert. Das ist jetzt etwas wenig ausformuliert, aber vielleicht könnt ihr trotzdem sehen, was ich meine. Ich glaube, ich verfolge ein ähnliches Anliegen wie Elmar. Ich frage mich, welche Fragen in einem guten Gespräch vorkommen können."

Nach mir sagte Renate: "Also ich habe mir das bisher noch nie überlegt. Ich finde das spannend. Und obwohl wir nicht mehr über die Regeln sprechen wollen, muss ich das trotzdem sagen. Die Regeln führen oft dazu, dass Fragen auftauchen wie jetzt. Es geht mir jetzt nicht um die Regel, sondern darum, dass wir uns überlegen, was ein gutes Gespräch oder eben was ein Dialog ist. Die Regeln sollten ja einfach ein gutes Gespräch bewirken. Ich merke jetzt, dass ich diese Regeln wie Tricks sehen kann. Sie haben einen tieferen Sinn, den ich aber nicht kennen muss. Das wird mir jetzt bewusst. Ich habe folgende Regel gelernt. Wenn ich eine Frage habe, kann ich sagen, dass ich mich frage, ob dieses oder jenes so oder so sei. Das heisst, ich frage nicht, sondern berichte darüber, welche Fragen mich plagen. Weil ich nicht frage, muss niemand antworten, aber natürlich können alle etwas zu diesem Thema sagen. Und ich kann dann das, was ich höre als Antworten nehmen, wenn es mir passt. Also das ist die Regel, aber was hinter dieser Regel steckt, wird mir erst jetzt klarer."

Danach sagte Heinz: "Ich habe noch nicht über die Fragerei nachgedacht, weil ich bin jetzt immer noch über unseren Dialog nachdenken muss. Ich glaube, nachdenken ist dafür nicht das richtige Wort, eher hinterherdenken. Ich bin immer noch dabei, zu verstehen, wie das Spiel hier läuft. Aber ich habe jetzt anhand der nicht erlaubten Fragen angefangen eine Vorstellung vom Dialog zu entwickeln. Und das hat auch mit Fragen zu tun. Soweit ich jetzt verstanden habe, geht es weniger um Fragen, als darum, was wir mit Fragen machen. Rolf hat einige Beispiele gegeben, vom Verkäufer bis zum Staatsanwalt, es geht immer darum, den anderen zu bestimmten Antworten zu führen. Plato, oder wenn ihr wollt, Sokrates hat daraus ein grundlegendes Prinzip gemacht. Er hat die dümmsten Menschen durch richtiges Fragen zu den besten Anworten geführt. Das wird gemeinhin als der sokratische Dialog bezeichnet. Ich glaube, das hat mich jetzt die längste Zeit blockiert. Ich hatte diesen Dialog im Kopf und ihr macht das Gegenteil und sagt auch Dialog."


 
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Lisa schlug an die Klangschale. Und Peter fragte, ohne Sprechstab: "Was ist denn jetzt wieder nicht gut?" Lisa hielt den Zeigefinger vor ihren Mund, wie eine Kindergärtnerin es tun mag, wenn eines der Kinder vorlaut ist. Der Klang dieser kleine Schale bleibt fast ewig in der Luft, wenn ich darauf warte, dass er sich verflüchtigt.

Lisa nahm den Stab: "Mir wird das alles jetzt einfach viel zu schnell. Es ist für mich jetzt wie in einem Vortrag, es rauscht vorbei und ich merke, dass es interessant wäre, aber dass ich nicht nachkomme. Würde ich das in einem Buch lesen, würde ich an dieser Stelle das Buch und auch meine Augen kurz schliessen. Ich glaube, ich würde einfach etwas warten. Das mache ich oft beim Lesen. Ich denke dann gar nicht so viel, sondern mache eher eine Pause. Es ist so eine Art Wachschlafen, damit sich mein Gehirn wieder organisieren kann. Mit dem Sprechstab ist schon alles etwas langsamer, aber es mir manchmal doch zu schnell. Ich glaube, die Schale ist auch dafür da." Sie blieb mit dem Sprechstab ziemlich lange sitzen. Ich versuchte, mich an das bisherige Gespräch zu erinnern, dann merkte ich, dass mich die Idee des Wachschlafes aufmerksam gemacht hatte. Deshalb versuchte ich mich an nichts zu erinnern, sondern einfach zu warten, wie es Lisa vorgeschlagen hatte.

Peter war mit Lisa zusammen in der Mitte um den Stab zu kriegen. Es sagte wieder im Stehen: "Endlich läuft ein interessantes Gespräch und sofort kommt wieder eine so ulkige Regel und macht das Gespräch kaputt. Diese Regeln sollten wir jetzt wirklich abschaffen, damit ein Dialog möglich wird." Er legte den Stab hin und setzte sich.

Renate holte den Stab, sie liess sich viel Zeit: "Wenn wir eine gute Diskussion über Fragen oder über irgendein anderes Thema wollten, dann wären unsere Regeln vielleicht störend, ich weiss es nicht. Aber wir sind hier - und ich sage jetzt bewusst wir - um uns im Dialog zu üben, nicht um über irgend etwas zu diskutieren. Und die Klangschale ist hier, damit jeder von uns die Möglichkeit hat, im Dialog zu bleiben. Was ist das für ein Gespräch, bei welchem ein Teil der Sprechenden schon längst abgehängt haben, weil sie nicht mehr mitkommen? Gerade wenn die Sache interessant wird, will ich dabei sein und nicht überrannt werden. Ich bin froh, dass Lisa die Schale klingen liess. So konnte ich mich auch nochmals etwas orientieren. Und Lisa hat offenbar perfekt verstanden, wozu die Schale gut ist. Ich habe das bisher nicht so deutlich gesehen, ich habe sie einfach mitgebracht, weil mir die Idee im Prinzip gefallen hat."

Elmar nahm den Stab: "Mir ist jetzt noch etwas andere aufgefallen. Wir sind eine Gruppe von Leuten mit sehr verschiedenen Voraussetzungen. Wenn ich mich mit einem Thema schon etwas befasst habe, andere aber nicht, dann ist logisch, dass ich schneller vorwärtsgehen kann. Ich kann ja auch schneller Skifahren als ihr, weil ich es öfter mache als ihr, nehme ich mal an. Wenn wir aber zusammen bleiben wollen, müssen wir ein gemeinsames Tempo finden. Das ist eine schwierige Sache, denn wir können ja auch nicht nach jedem Beitrag die Schale anschlagen. Wir üben hier vielleicht hauptsächlich, das richtige Tempo zu finden. Also ich bin auch froh, dass Lisa die Schale angeschlagen hat."


 
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Ich nahm den Stab: "Das Skirennen müssten wir erst noch austragen, wer weiss, anstelle eines Rennens einen Dialog im Schnee? Das Tempo im Gespräch hat verschiedene Aspekte. Ich habe vorher beispielsweise etwas von Sokrates gehört. Dabei sind in mir schlechten Emotionen, die ich mit diesem Name verbinde, hochgestiegen. Dann kann ich natürlich nicht mehr so gut zuhören und dann wird es mir zu schnell, weil ich in Emotionen stecke. Ich habe also etwas vom sokratischen Dialog gehört und sofort angefangen, darüber nachzudenken. Dabei hätte ich wohl den Gesprächsfaden auch verloren, wenn mich die Klangschale nicht gerettet hätte. Wenn ich all diesen An- und Nebenbemerkungen folgen will, habe ich keine Chance. Mir scheint, dass der Witz des Dialoges darin besteht, viel mehr Möglichkeiten und Zusammenhänge zu erkennen, als wenn ich alleine in meinem Kämmerchen nachdenke. Aber ganze Vielfalt überfordert mich natürlich. Deshalb erlebe ich dann das schon stark verlangsamte Gespräch als doppelt schnell. Wenn wir den Stab nicht hätten, wenn es um das schneller ginge, würde ich vielmehr überhören. Dann würde ich besser nachkommen. Genau besehen ist es natürlich gerade umgekehrt, aber in meinem Erleben ist es so. Je schneller das Gespräch an mir vorbeizieht, umso besser kann ich folgen. Das habe ich jetzt bemerkt, diese Klangschale hat etwas an sich."

Lisa unterbrach mich: "Deshalb sprechen wir ja auch vom Zauberstab und wohl deshalb sieht der Redestab auch wie aus einem Zauberkasten aus. Es ist eine Zauberklangschale. Oh, Entschuldigung, es ist so rausgesprudelt."

Ich sagte: "Ja Zauberei. Ich merke jetzt auch, dass ich an ganz anderen Orten solche Erfahrungen machen könnte, und dass diese Erfahrungen nicht nur den Dialog schwierig machen. Wenn ich beim Video auf Zeitlupe schalte, sehe ich plötzlich mehr, dann verlangsame ich das Bild noch mehr, weil ich noch mehr sehen will, bis das Bild stehen bleibt. Dann merke ich, dass ich so nie ans Ende der Aufzeichnung komme. Diese Tempo- und Effizienzfragen sind kompliziert. Man muss sich nur vorstellen, dass wir den Video gemeinsam anschauen und jeder dort auf Zeitlupe stellt, wo er gerade etwas mehr sehen will."

Renate sagte: "Ich finde das gar nicht kompliziert, man muss nur die Idee aufgeben, effizient sein zu müssen. Effizient kann ich ohnehin nur sein, wenn ich ein Ziel habe, das ich möglichst rasch erreichen muss. Vielleicht unterscheidet das den Dialog von einer Diskussion, vielleicht habe ich im Dialog noch keine Ziele, sondern suche sie erst."

Lisa nahm den Zauberstab in ihre Hände: "Jetzt hat für mich der Spruch 'Der Weg ist das Ziel' einen konkreten Sinn bekommen. Ich will gar nicht das Ende des Videos oder unseres Dialoges sehen. Ich will den Dialog oder den Video sehen. Im Kino lese ich oft plötzlich den Nachspann und weiss dann gar nicht, warum der Film zu Ende ist. Wie du gesagt hast, er ist an mir vorbeigezogen, vorbei eben. Und im Dialog finde ich wunderbar, dass man anhalten kann." Nach einer kleine Pause fügte sie an: "Dass man anhalten kann, ohne dass das Bild dann stehen bleibt. Es ist nicht wie beim Video, der Dialog geht weiter, wenn er angehalten wird. Aber ich spüre jetzt deutlich, dass es mir auf den Dialogprozess ankommt, nicht auf ein Thema. Der Weg ist mein Ziel."


 
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Elmar übernahm: "Mich erinnert das an eine irgendwie umgekehrte, verkehrte Geschichte, die mich oft ziemlich nervt. Früher gab es den Briefwechsel. Darin erkenne ich jetzt auch einen sehr langsamen Dialog. Und in Briefen schreibt man ja oft sogar über verschiedenen Themen, die gar nicht zusammengehören, ohne dass der andere etwas dazwischen sagt, man bleibt oft nicht bei einem Thema. Ich muss noch etwas darüber nachdenken, was Dialog mit Briefschreiben zu tun hat. Jetzt meinte ich etwas anderes, nämlich die wahnsinnige Beschleunigung des Briefes in e-mails. e-mails machen mich manchmal wahnsinnig. Ich habe immer das Gefühl, man müsse augenblicklich antworten und Antwort bekommen. Ich glaube, ich schreibe jetzt wieder einmal einen ganz langsamen Brief." Er schien Papier und Feder zu sehen. "Kennt ihr das auch beim mailen. Ich schreibe etwas in zwei oder drei Absätzen in einer mail. Dann bekomme ich Antwort. Aber die Antwort ist nicht auf meine mail, sondern ich bekomme zu jedem Abschnitt eine Antwort, eingefügt in meine mail. Manchmal antworte ich dann auch so, und so werden die Texte immer verückter, ich glaube schneller oder hektischer. Es ist, wie wenn ich den anderen nicht ausreden liesse. Das ist das genaue Gegenteil von unserem Setting." Er schaute Peter an und sagte: "Das ist super effizient."

Der Stab blieb dann ziemlich lange in der Mitte, so dass wir Zeit hatten, über das Tempo im Dialog nachzudenken. Dann nahm Peter den Stab: "Ok, das war jetzt für mich auch eine Lektion. Es geht oft zu schnell. Was mich aber hier immer wieder stört, ist dass wir auch unabhängig vom Tempo, nicht bei einem Thema bleiben können. Ich meine die Frage, was Fragen sind, die interessiert mich sehr und wir haben einen guten Dialog darüber angefangen und jetzt sind wir bei etwas ganz anderem gelandet. Ich frage mich, ob das euch nicht auch stört und was man im Dialog dagegen tun könnte. Natürlich könnte ich einfach jedesmal diese Schale benutzen, wenn jemand das Thema verlässt, aber ich glaube, das ist nicht der Sinn der Sache. Ich möchte jedenfalls nochmals auf die Frage zurückkommen. Und ihr?"

Renate holte Stab: "Ich will nochmals etwas moderierend sprechen. Es spielt im Dialog keine Rolle, worüber die andern gerne sprechen würden. Genau deshalb gibt es kein Thema ..."

Eva unterbrach: "Also jetzt kann ich einfach nicht still sein. Du sagst, dass es keine Rolle spiele, worüber die andern gerne sprechen würden. Das kann doch nicht Dein Ernst sein, das ist doch das Gegenteil eines Dialoges, selbstsüchtig und egozentrisch."


 
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Renate sagte: "Nein. Im Dialog sagen alle immer genau das, was sie sagen möchten, nicht das, was andere gerne hören möchten. Ich glaube, dass sich so ganz gute Gespräche entwickeln und dass Themen viel umfassender behandelt werden, als wenn man Themen festlegt. Ich glaube beispielsweise, dass es Grundthemen gibt, denen man in Dialog gar nicht ausweichen kann. Das hat nichts mit den Themen selbst zu tun, sondern viel mehr mit der dialogischen Haltung. Das Fragen ist für mich ein solches Grundthema. Man könnte vielleicht sagen, dass das Fragen das Thema schlechthin sei. Wenn wir uns die Zeit nehmen, werden wir diese Themen finden und erkennen. Für mich besteht darin der Sinn des Dialoges. Wir setzen keine Themen, wir finden sie im Dialog. Und die Dialogregeln bremsen das Gespräch so, dass wir diese Grundthemen auch erkennen können. Wir haben sozusagen als Regel, dass wir kein Thema haben. Man könnte die Regel so verstehen, dass kein Thema abgemacht oder vereinbart wird, aber das ist nur die Oberfläche, eben die Dialogregel. Die Sache geht viel tiefer. Es geht darum, dass ich innerhalb des Dialoges wach bleibe und nicht einem zufälligen Thema verfalle, weil das gerade im Gespräch zu sein scheint. Wir machen nicht nur kein Thema ab, wir haben auch keines und mein Anspruch ist, dass ich das unterwegs immer merke, also mir nicht plötzlich einbilde, wir würden über Fragen oder so etwas sprechen, und ich müsse deshalb auch darüber sprechen. Es ist wichtig, dass wir im Gespräche bewusst darauf achten, dass wir kein Thema haben."

Eva sagte: "Aha. Das leuchtet mir ein, aber das ist schon alles extrem, radikal. Entschuldigung."

Ich holte den Stab: "Ich will noch etwas zur deiner Moderation sagen. Ich glaube, du könntest ... ich meine, ich könnte, alles was du moderierst auch im Dialog sagen. Anstatt zu sagen, wie es im Dialog oder in der Dialogveranstaltung wirklich ist, würde ich einfach sagen, was ich gerne hören würde und was ich nicht so gerne höre, sozusagen unabhängig von Dialogregeln. Ich verstehe deine Moderationsbeiträge eigentlich gar nicht als Moderation, sondern eher als Belehrungen. Du sagst uns dann jeweils, was Dialog ist und was nicht." Renate schien mir etwas frustriert, deshalb sagte ich: "Ich will nicht sagen, dass du schulmeisterst, ich nehme schon wahr, dass du uns einfach die Spielregeln erklärst. Das wurde ja schon mehrfach gewünscht, dass du am Anfang jeweils eine kleine Einführung machst. Mir gefällt aber eigentlich, dass du das nicht machst, sondern erst unterwegs also im Dialog sagst, wie du den Dialog verstehst. Mir fällt einfach ein Unterschied auf, den ich zur Sprache bringen wollte. Ich glaube, du siehst den Unterschied auch, denn du sagst ja dann jeweils, dass du moderieren würdest." Ich merkte selbst, dass ich vom Du gesprochen hatte, deshalb sagte ich: "Bitte entschuldige, ich wollte gar nicht zu dir sprechen, sondern in die Mitte. Mir ist jetzt einfach das Problem des Moderierens in den Sinn gekommen. Ich will das auf unser Buffet legen. Wir brauchen, ich brauche keine Moderation und keine Einführung. Man kann alles innerhalb des Dialoges sagen. Ich weiss nicht, ob das effizient ist, aber es geht sicher ohne Probleme."


 
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Lisa sagte: "Ich will auch noch etwas zum Moderieren sagen. Ich habe ja bisher geglaubt und auch gesagt, dass eine Einführung am Anfang gut wäre. Jetzt aber glaube, es nützt nichts, wenn man sagt, was ein Dialog ist oder beispielsweise, ob ein Dialog ein Thema hat. Ich habe beschlossen, dass ich nicht weiss, ob Dialoge ein Thema haben oder nicht, sondern dass ich nur darauf achte, ob ich selbst in ein Thema verstrickt bin und deshalb nicht hören kann, was andere sagen. Vielleicht haben alle immer ein Thema, nur nicht dasselbe. Vielleicht geht es ja genau darum zu hören, was andere für Themen haben."

Elmar nahm den Stab: "Jetzt erkenne ich das Muster schon wieder. In normalen Diskussionen können die meisten Menschen nicht hören, was der andere sagt, weil sie nur an das Thema denken. Also sagt man im Dialog, also in der Antidiskussion, der Dialog hat kein Thema. Ich beobachte uns einmal etwas von aussen. Dann würde ich sagen, dass wir kein Thema abgemacht haben, aber dass wir ein ganz eindeutiges und klares Thema haben. Wir sprechen die ganze Zeit immer und ausschliesslich über den Dialog, also ich nehme unseren Dialog wenigstens so wahr." Er drehte sich zu Lisa, die neben ihm sass und sagte: "Du bist übrigens nicht alleine mit der Unsicherheit, ob der Dialog eine Einführung braucht oder nicht. Im Buch von Bohm steht, es sei nicht klug, einen Dialog zu beginnen, ohne davor wenigstens die Grundzüge des Dialoges zu erklären ..."

Peter rief dazwischen: "Deshalb wollte ich am Anfang einen kleinen Vortrag machen. Ich hätte dann auch gesagt, dass Bohm das wichtig findet."

Elmar winkte mit dem Stab und fuhr weiter: "Nein, eben nicht. David Bohm sagt, wenn man der Gruppe vertraue und darauf vertrauen könne, dass der Dialog fortgesetzt werde, könne man ohne Einführung beginnen, weil dann im Dialog zur Sprache komme, was ein Dialog sei. Oder genauer, man müsse es zur Sprache bringen. Ich glaube, wir verwenden eben genau diese zweite von ihm beschriebene Möglichkeit." Peter wollte offensichtlich wieder etwas sagen, aber Elmar hielt den Sprechstab hoch. "Ich weiss nicht, was besser wäre, Lisa weiss es nicht und David Bohm offenbar auch nicht."

Renate sagte ohne den Stab zu holen: "Ich sehe ein, dass ich weder am Anfang noch unterwegs moderieren muss, dass das eigentlich nur eine Art Ausrede ist, wenn ich etwas ungeduldig werde, weil sich jemand nicht an die Regeln hält. Ich will versuchen, den belehrenden Ton und das Moderieren abzulegen. Mir gefällt der Vorschlag von Lisa und Rolf, ich muss eigentlich niemandem sagen, was ein Dialog ist, es scheint mir besser, wenn ich sage, was ich gerne habe und was nicht. Aber ich will auch die Regeln nicht einfach vergessen, sie haben nämlich schon einen tieferen Sinn, das ist mir jetzt schon mehrmals bewusst geworden. Ich will jetzt sogar noch eine Regel sagen, an welche ich mich halten will. Ich sage nicht, was irgendwelche berühmten Leute gesagt haben, sondern was ich sage. Ich zitiere also nicht, weil ich nicht meine, dass etwas wahrer oder besser wird, weil ein Philosoph oder beispielsweise David Bohm das auch oder vor mir schon gesagt hat."


 
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Elmar hatte den Stab in der Zwischenzeit wieder in die Mitte gelegt.

Heinz nahm den Stab: "Ich sage euch einmal, wie ich mir vorkomme. Ich komme mir vor wie ein Banause, der mitten in ein Streitgespräch unter sophistische Experten geraten ist. Ihr alle wisst, was ein Dialog ist, aber leider wisst ihr nicht dasselbe, und deshalb streitet ihr darüber, was ein Dialog ist. Und ich weiss auch, was ein Dialog ist, aber ich weiss etwas so anderes als ihr, dass ich gar nicht mitstreiten kann. Ich habe auch eure Bücher nicht gelesen, ich habe noch nicht einmal von diesen Büchern gehört. Ich glaube nun, dass sehr nötig wäre, am Anfang zu sagen, was ein Dialog ist, wenn man eine so extreme, idiosynkratische Definition von Dialog hat, die mit dem, was der gesunde Menschenverstand als Dialog bezeichnet, offensichtlich gar nichts zu tun hat. Man müsste am Anfang, den Neuen wenigstens, mindestens sagen: 'Vergesst alles, was ihr über den Dialog wisst, hier ist alles ganz aders!'"

Peter nahm den Stab: "Also jetzt muss ich doch etwas über die Dialogtheorie sagen. Und ich glaube immer noch, dass man das voraus sagen müsste. Bohm hat gesagt, dass wir verschiedene Vorstellungen über die Welt haben, die eben im Dialog zutagetreten, wenn wir nur hinreichend ernsthaft miteinander sprechen. Und heute haben wir eben über den Dialog gesprochen und so unsere Differenzen in bezug auf den Dialog gefunden. Alle haben verschiedene Bücher gelesen und wir wurden ja auch von verschiedenen Eltern erzogen. Da ist es klar, dass wir verschieden sind. Im Dialog sollten wir diese Verschiedenheiten ergründen und prüfen, wo und warum sie den Dialog verhindern. Nach Bohm zeigen sich Differenzen in den Auffassung zuerst als Missverständnisse, ..."

Renate unterbrach ihn: "Ja, Missverständnisse. Das ist der Punkt. Der Punkt ist, wie wir mit Missverständnissen umgehen. Ob wir sie aus dem Weg räumen, oder ob wir sie als Zeichen nehmen, als Anzeichen für verschiedene Vorstellungen ..."

Peter fuchtelte mit dem Stab: "Lass mich bitte aussprechen, schliesslich habe ich diesen Sprechstab, aber auch sonst. Also, Bohm sagt ganz am Anfang seines Buches, dass es zwei Arten von Kommunikation gibt. Eine praktische oder technische, in welcher es darum geht, den andern etwas mitzuteilen, und eine mehr dialogische, in welcher es darum geht, Neues zu schaffen. Also ich - und ich glaube auch Bohm - finde beide Seiten dieser Unterteilung sehr wichtig. Wenn man oder ich etwas mitteile, dann weiss ich es schon und der andere muss es genau verstehen. Dabei sollte es eben gerade keine Missverständnisse geben. Dabei soll eben nicht etwas Neues entstehen, weil ich falsch verstanden werde ..."


 
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Lisa holt sich den Stab bei Peter, der ihr den Stab mit eine gewissen Theatralik übergab. Lisa sagt: "Ja, das ist wirklich sehr interessant, was Herr Bohm da gesagt hat, und Du gibst uns eben ein Beispiel. Du hälst einen Vortrag über etwas, was Du schon weisst und wir erst noch lernen sollen, ohne dass dabei etwas Neues entstehen könnte. Genau deshalb mag ich keine Vorträge, nicht einmal so ganz kurze wie deiner jetzt wahr." Sie behielt den Stab wieder relativ lange ohne etwas zu sagen.

Renate holte dann den Stab und wartete nochmals lange, bevor sie zu sprechen begann: "Ich versuche es ganz ruhig. Ich weiss nicht, ob ich das alles richtig verstanden habe, aber ich weiss, dass es darauf jetzt gerade nicht ankommt. Die Unterscheidung zwischen einer technischen und einer dialogischen Kommunikation ist das, worum es mir hier geht. Es gibt vielleicht Orte oder Momente, wo es sehr wichtig ist, dass der andere mich genau versteht. Dort findet meines Erachtens kein Dialog statt. Dort ist ein Dialog gerade nicht nötig und nicht sinnvoll. Hier aber haben wir den Freiraum und die Musse für einen Dialog. Hier können wir es uns leisten, nicht wie Computer zu denken, sondern auch vage und unsichere Ideen zu formulieren. Ich erzähle Euch, wie ich die Sache verstanden habe. Im technischen Sinne geht es um Mitteilungen, die müssen genau sein, Missverständnisse sind Fehler ..."

Peter rief: "Also, das sage ich doch!"

Renate fuhr fort: "Aber im Dialog sprechen wir so, dass aus dem ungenauen Verstehen neue Ideen entwickelt werden. Ich will das etwas genauer sagen, damit niemand meint, wir suchen hier Missverständnisse, weil wir glauben, dass Missverständnisse gut seien. Im Dialog passe ich auf. Und weil der Dialog langsam ist, merke ich vieles, darüber haben wir ja heute gesprochen. Wenn ich nun ein Missverständnis erkenne, versuche ich nicht, das Missverständnis aus der Welt zu schaffen, wozu eben direkte Fragen gut wären, sondern ich versuche zu erkennen, wie das Missverständnis überhaupt entstehen konnte. Dabei kann ich merken, dass ich andere Grundannahmen gemacht habe als mein Zuhörer oder umgekehrt. Diese Grundannahmen beeinflussen, wie wir etwas verstehen. Verschiedene Grundannahmen führen dann unter Umständen zu verschiedenen Verständnissen, was eben technisch als Missverständnis erscheint. Solche Missverständnisse sind aber nicht einfach Fehler wie in der technischen Kommunikation. Man könnte vielleicht sagen, ich habe jedenfallsauch David Bohm so verstanden, dass es im Dialog darum geht, sich solche Grundannahmen bewusst zu machen."


 
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Lisa sagte: "Und das müssten wir dann vor allem dort tun, wo wir eben Missverständnisse erkennen. Das tut mir jetzt aber wirklich gut, weil ich schon ein etwas schlechtes Gewissen hatte, weil ich die Klangschale benutzt habe. Oh, ich bitte um Entschuldigung." Renate gab ihr den Sprechstab. Dann sagte Lisa: "Ich hatte vom Dialogbuch im Kopf, dass Missverständnisse produktiv seien, das hat mir aber nicht so recht eingeleuchtet. Jetzt würde ich sagen, dass das Erkennen und vor allem das Untersuchen von Missverständnissen sehr produktiv sein kann. Ich würde gerne noch einmal auf unser Missverständnis zurückkommen. Peter hat offenbar verstanden, dass er das Buch zusammenfassen sollte, und alle andern haben etwas anderes verstanden ..." Peter gestikulierte wild. Lisa reagierte: "Peter, lass es gut sein. Es geht ja gerade nicht darum, dass irgendjemand etwas falsch verstanden hat. Hier entscheidet auch keine Mehrheit darüber, was richtig wäre. Hier wollen wir nur die Differenz sehen und verstehen. Ich habe am Anfang ganz intuitiv die Klangschale benutzt, weil ich ein Missverständnis erkannte. Wenn es uns gelingt, offen zu lassen, wer verstanden und wer missverstanden hat, dann haben wir eine Chance zu verstehen, wie das Missverständnis zustande gekommen ist. Wie Renate sagte, dann können wir vielleicht sehen, was unsere Annahmen bewirkten. Ich mache mal einen provisorischen Vorschlag. Ich nehme mich und Peter als Beispiel." Sie schaute Peter fragend an, er nickte. Sie sagte: "Sagen wir es so: Es war die Rede davon, dass man das Dialogbuch in einem kurzen Vortrag vorstellen könnte oder sollte. Ich mag keine Vorträge und habe deshalb gehört, dass es keinen Vortrag gibt. Peter mag Vorträge und hat deshalb gehört, dass so ein Vortrag stattfinden sollte. Und als er das Buch von Renate bekommen hat, nahm er das als Aufforderung wahr. Ich glaube, dass ich dann noch gesagt habe, dass ich keinen Vortrag hören will, aber Peter hat das nicht auf diesen Vortrag bezogen, sondern vielleicht auf weitere Vorträge, weil er diesen Vortrag ja für abgemacht hielt. Es spielt jetzt nicht so eine genaue Rolle, wie es wirklich war. Wichtiger ist meines Erachtens, dass es Menschen gibt, die Vorträge mögen und solche, die das nicht tun. Und in diesem Fall hat diese Unterscheidung ein Missverständnis gemacht, weil wir im Gespräch die verschiedenen Voraussetzungen nicht erkannten oder vielleicht genauer, nicht ernst genommen haben. Für mich ist das ein exemplarischer Fall." Sie legte den Stab zurück.

Peter sagte ohne den Stab zu holen: "Ja, so kann man das sehen." Dann blieb es wieder länger ruhig.

Dann holte Peter den Stab und sagte in der Mitte stehend: "So kann man das sehen, aber gewonnen haben wir damit nicht sehr viel. Vielleicht ist diese Problem als Beispiel einfach zu einfach."


 
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Lisa nahm den Stab und sagte: "Also ich habe jetzt ziemlich viel gewonnen. Vielleicht ist es wirklich einfach und trivial, aber mir ist erst jetzt bewusst geworden, dass wir mit unseren Haltungen oder Grundannahmen zu Vorträgen ein Missverständnis produziert haben. Ich glaube, dass wir jetzt beispielsweise darüber sprechen könnten, was Dir an Vorträgen so gefällt und warum ich Vorträge meistens langweilig finde. Das heisst, wir könnten ein vernünftiges Gespräch über unsere Annahmen führen, statt uns einfach die Schuld an einem Missverständnis zuzuschieben. Darin erkenne ich eine wesentliche Funktion des Dialoges."

Elmar sagte deutlich zu Peter gewandt: "So steht das ja auch im Buch von Bohm, oder? Missverständnisse sind Chancen Grundannahmen zuentdecken. Im Dialog geht es darum, mit Missverständnisse so umzugehen, dass der Dialog weitergehen kann. Vielleicht sollten wir uns wirklich Gedanken darüber machen, wie sinnvoll Vorträge im Unterschied zu Dialogen sind, zumal wir damit auch wieder bei den Fragen wären. Im Vortrag kommen meistens uneigentliche Fragen vor, die im Dialog verboten sind, und die echten Fragen, die im Dialog erlaubt sind, kommen im Vortrag gerade nicht vor. Wir sind also sozusagen mitten im Thema."

Peter sagte: "Ja, wenn man die Fragen, die normalerweise nach einem Vortrag gestellt werden, nicht zum Vortrag zählt."

Lisa, die den Stab noch hatte und ihn in die Höhe hielt, sagte: "Ich finde auch interessant, warum verschiedene Menschen bezüglich Vorträgen verschiedene Vorlieben haben. Das könnte beispielsweise mit der individuellen Geschichte zusammenhängen. Es könnte ja sein, dass ich Vorträge nicht mag, weil ich schlechte Erinnerungen habe. Und wenn ich von anderen Menschen dann gute Erinnerungen an Vorträge kennenlerne, könnte sich meine Abneigung verändern. Darin sähe ich den Sinn von Dialogen. Erzählt mir doch einmal von guten Vorträgen, ich meine von Vorträgen, die gut für Euch waren!" Dann legt sie den Stab demonstrativ langsam zurück, so dass der Redefluss stoppte.

Nach einer Weile sagte Renate: "Ich frage mich, ob ich im Dialog andere zu etwas auffordern darf. Das ist im Prizip das gleiche, wie ihnen eine Frage zu stellen. Wir stellen ja genau deshalb keine Fragen, weil wir die andern nicht zwingen wollen, Antwort zu geben. Man könnte vielleicht sagen, dass es bei der Frage-Regel gar nicht um Fragen geht, sondern darum, den andern nicht zu zwingen, über etwas zu sprechen, was nur mich interessiert. Fragen wären dabei nur ein spezieller Fall. Mit Fragen zwinge ich den andern immer."


 
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Lisa übernahm den Stab direkt von Renate und sagte: "Ja, es kommt wohl sehr stark auf die Formulierung an. Ich wollte Euch nicht auffordern, zu nichts. Ich wollte nur erzählen, mit welchen echten Fragen ich mich jetzt echt beschäftige. Ich frage mich, warum ich Vorträge nicht mag, während andere Menschen Vorträge interessant und spannend finden. Einen wichtigen Hinweis habe ich jetzt ja bereits bekommen. In Vorträgen haben die Fragen eine ganz andere Bedeutung als im Dialog. Aber das erklärt mir nur, warum ich Vorträge nicht mag, es erklärt mir nicht, warum andere Menschen Vorträge mögen, oder sogar Vorträge halten. Das ist meine Frage, aber das muss deshalb nicht Eure Frage sein."

Peter und Heinz waren beide schon in der Mitte, bevor Lisa den Stab zurücklegte. Lisa spickte mit dem Fingernagel an die Klangschale. Der klang war leise, aber sehr gut hörbar. Peter und Heinz schauten sich an, dann setzten sich beide wieder auf ihre Stühle.

Nach einiger Zeit sagte Eva: "Mir leuchtet das alles im Prinzip schon ein, aber es ist so unglaublich kompliziert. Ist es denn wirklich so schlimm, wenn ich jemanden zu einer Antwort zwinge, indem ich beispielsweise jemanden ganz direkt frage, wie spät es ist. Ich glaube, wir schütten hier das Kind mit dem Bade aus, wenn wir alle Fragen verbieten. Ich meine es gibt doch ganz viele Situationen, wo ich von andern etwas will. Das ist doch nicht generell schlecht. Ich glaube, wir machen den Dialog unmöglich, wenn wir ihn so radikal durchsetzen wollen."

Elmar sagte: "Wir haben ja deutlich zwei verschiedene Gesprächstypen unterschieden, wir sprachen von einer technischen und von einer dialogischen Kommunikation. Ich glaube, dass sich im normalen Leben diese beiden Gesprächsarten vermischen. Die Unterscheidung ist eben analytisch oder theoretisch, fiktiv. Aber ich habe eben Renate oder unseren Dialog so verstanden, dass wir hier bewusst nur die eine Seite der Unterscheidung üben wollen. Mir scheint, wir drehen uns im Kreis, weil .. Also, wir oszilieren zwischen Dialog und Diskussion. Wenn wir uns hier nur auf den Dialog beschränken wollen, dann dürfen wir unser Gespräch nicht immer wieder an Effizenzkriterien bemessen." Er legte den Stab zurück und fügte dann an: "Ach, ich weiss es eigentlich auch nicht. Ich glaube, das war gerade wieder ein Versuch, Euch zu einer gewissen Disziplin zu überreden."

* * *


 
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Renate stand auf und blieb in der Mitte stehen. Sie sagte: "Ja, für mich geht es hier ganz eindeutig um genau diese Sache. Ich sehe natürlich auch, dass unser Dialog kein Alltagsgespräch ist. Unser Dialog ist in einer bestimmten Hinsicht künstlich, weil wir bewusst ein gewähltes Setting verwenden. Und ich sehe auch, dass uns das Schwierigkeiten macht, aber dieser Dialalog ist ganz genau das, was ich mit Euch zusammen üben möchte, so radikal wie möglich. Ich glaube, wir haben jetzt alle ein bisschen gesehen, wie das gehen könnte, und jeder von uns kann sich überlegen, ob er darin einen Gewinn für sich finden kann". Dann schlug sie wieder eine Checkoutrunde vor und fragte, ob wir davor eine Pause machen wollen. Da sie keine rechte Antwort bekam, setzte sie sich wieder und sagte sie: "Also dann fange ich einfach einmal an. Ich habe erneut ziemlich gespaltene Gefühle, es ist überhaupt nicht so gelaufen, wie ich es mir vorgestellt oder erhofft habe. Als Heinz sagte, dass wir darüber streiten würden, was ein Dialog sei, bin ich richtig erschrocken. Ich habe heute viel gelernt, ich glaube auch über den Dialog, obwohl das für mich alles andere als ein idealer Dialog war, nicht das jedenfalls, was ich mir darunter vorstelle. Jetzt bin ich etwas betrübt, weil ich nicht recht sehe, wie wir dorthin kommen könnten. Wir haben jetzt zwei Anläufe genommen und ich frage mich, ob ihr noch motiviert seid, jetzt, wo wir diesen schönen Raum haben und eigentlich alles organisiert ist. Ich habe mir alles viel einfacher vorgestellt."

Lisa sagte: "Ich will sagen, dass ich es wieder sehr eigenartig und faszinierend gefunden habe, und dass ich Euch herzlich danken möchte, dass Ihr dafür gesorgt habt, dass es weitergeht. Ich glaube, ich habe jetzt das Grundprinzip verstanden und brauche deshalb am Anfang keine Einführung mehr. Ich fände es aber trotzdem sinnvoll, wenn man neue Leuten am Anfang wenigstens die Regeln erklären würde. Ich meine damit keinen Vortrag darüber, was ein Dialog ist, einfach kurz die Regeln und noch die Regel, nicht immer über diese Regeln zu sprechen, nur weil es uns schwer fällt, uns an die Regeln zu halten. Und dann will ich noch sagen, dass ich heute Mut gebraucht habe, und dass ich ein wenig stolz darauf bin, dass ich diesen Mut gefunden habe, auf die Klangschale zu schlagen. Es ist mir nicht leichtgefallen, mitten in einem interessanten Gespräch diese Bremse zu ziehen, auch weil ich vorausahnte, dass dann das Thema wechseln würde. Ich bin jetzt immer noch etwas hin und hergerissen, weil ich das Fragethema gestoppt habe, aber ich habe ein wirklich gutes Gefühl zu mir selbst, weil ich glaube, dass ich dialogisch gehandelt habe."

Elmar sagte: "Wir müssen hier nicht raus, wir können ohne weiteres länger hier bleiben, nach uns kommt niemand, ich habe den Schlüssel."


 
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Eva sagte: "Ich bin ziemlich ... nicht enttäuscht, sagen wir überrascht. Ich habe etwas völlig anderes erwartet. Und jetzt denke ich, dass es schliesslich im Dialog auch um etwas ganz anderes gehen wird, dass ich jetzt aber weniger in einem Dialog war, als in einer Sitzung darüber, wie wir später den Dialog führen wollen. Ich dachte, es sei klar, was ein Dialog ist, obwohl mir Lisa ja vom letzten Mal erzählt hatte. Jetzt dünkt mich, dass wir eine Art Verfahren erfinden, eine Methode. Ich habe gemeint, diese Methode wäre bereits erfunden, sicher teilweise von David Bohm. Vielleicht ist das ja auch so, nur wir wissen noch nicht, ob wir diese Methode, die wir ja auch nicht recht kennen, wollen. Aber ich habe es auch sehr spannend gefunden, aber überhaupt nicht dialogisch, vielmehr als Diskussion. Ich bin sehr gespannt, ob wir so jemals zu einem Dialog kommen werden."

Heinz sagte: "Mir ist es ganz genau auch so gegangen. Vielleicht hat das ja etwas damit zu tun, dass wir das erste Mal hier waren."

Daniel, der auch das erste Mal dabei war und die ganze Zeit nicht gesprochen hatte, sagte: "Ich bin auch neu hier, aber ich habe schon eine andere Dialogveranstaltug besucht. Dort was alles ganz anders, aber ein Dialog war es auch nicht. Ich bin eigentlich gekommen, um zu sehen, ob hier die Methode schon etwas besser verstanden wurde. Mir hat theoretisch vieles eingeleuchtet. Jatzt glaube ich, dass wir noch viel Arbeit vor uns haben, wenn wir aus dieser Theorie eine brauchbare Praxis machen wollen. Ich komme gerne wieder und werde auch gerne mitarbeiten, wenn ich etwas beitragen kann. Ich bin auch etwas enttäuscht, aber durchaus positiv. Ich habe jetzt gesehen, dass dieser Dialog vor allem ein Projekt ist. Ich will noch etwas sagen. Vielleicht wäre es gut, wenn wir die vorhandenen Bücher lesen und einbeziehen würden. Das könnten wir ohne Vorträge und Zitate machen. Diejenigen, die lesen, das müssen ja auch nicht alle sein, könnten einfach einfliessen lassen, was ihnen eingeleuchtet hat, ganz informell."

Heiner sagte: "Also für mich war das wie ein Erleuchtung. Ich kann Euch leider nicht recht sagen, was mich so starkt bewegt hat, Andeutungen habe ich ja schon versucht, aber ... Erleuchtung ist halt nicht ohne weiteres beschreibbar. Ich finde unglaublich, dass so etwas möglich ist."

Dann sprach eine Zeitlang niemand mehr bis Renate sagte: "Ja, diese check-out-Runde passt irgendwie zu unserer Dialogrunde. Ich glaube auch, dass ich noch ziemlich viel Uebung brauchen. Ich danke Euch trotzdem ganz herzlich und nochmals Dir, Elmar, für den Raum und Dir Rolf für den Mailversand. Wir treffen uns in einem Monat wieder, wenn Ihr Lust habt. Und Ihr dürft gerne weitere Leute mitbringen, Platz haben wir ja hier mehr als genug." Dann gingen wir zusammen zu einem Bier in den Vorbahnhof, was Peter oder Elmar als Tradition in unserer Veranstaltung bezeichnete, obwohl es das zweite Mal war. Im Vorbahnhof wurde dann neben den Getränken allerhand Wissen über den Dialog aufgetischt, das sich im Internet finden lässt. Das ist nicht wenig. Was erzählt wurde, hatte aber für mich wenig mit unserem Dialog zu tun.


 
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Die Veranstaltung

In der nächsten Dialogveranstaltung sah ich drei neue Gesichter, zwei Männer und eine Frau. Renate eröffnte die Runde, indem sie den Sprechstab aus der Mitte holte: "Ich freue mich, dass wir neue Teilnehmer und Teilnehmerinnen gefunden haben. Ich will deshalb etwas über unseren Dialog sagen. Wir meinen mit dem Ausdruck Dialog etwas ganz bestimmtes, aber wir bestimmen selbst, was wir meinen, und ich glaube, es ist uns noch nicht so ganz klar. Aber einige Dinge sind schon klar: Es geht hier nicht um eine Gesprächsrunde zu einem interessanten Thema, sondern darum, wie wir dieses Gespräche führen. Wir haben einige Regeln, an die wir uns halten, oder halten wollen. Ich will nur zwei Beispiele nennen, die andern Regeln ergeben sich dann im Dialog. Die Idee ist, dass alle aufmerksam auf die Regeln achten und so erkennen, welche Regel gelten. Meine Beispiele sind eben Beispiele, die für das Prinzip stehen. Wir sprechen immer in der ich-Form, ihr hört ja bei mir, dass dieses immer relativ ist. Ich muss natürlich sagen, dass ich immer in der ich-Form spreche. Zweitens, ich spreche immer in die Mitte des Kreises, also nie zu einzelnen Personen, die hier sind. Es gibt ganz viele Regeln, wir entwickeln sie zusammen. Mehr möchte ich jetzt über den Dialog nicht sagen, ich bin sicher, dass wir im Dialog noch mehr über den Dialog hören werden." Sie stand auf um den Stab zurückzulegen, dann sagte sie: "Oh, natürlich die erste Regel noch: Nur wer diesen Stab hat, darf sprechen." Dann legte sie ihn nieder.

Peter holte den Stab: "Also ich bin ja eigentlich gegen diese Regeln, aber da das Spiel nun einmal so läuft, finde ich, wir sollten wenigstens die Regeln, die wir schon kennen und abgemacht haben, am Anfang nennen. So verhindern wir vielleicht auch, dass jemand immer auf diese Schale schlägt, weil es dann doch weniger Missverständnisse gibt. Eine für mich entscheidende Regel lautet, dass ich niemandem Fragen stellen darf. Ich glaube, der ganze Dialog ist am meisten von dieser Regel bestimmt. Letztes Mal sagte jemand, dass Fragen der Motor jedes Gespräches seien. Ich glaube, das stimmt. Wenn ich selbst keine Fragen habe, und auch nicht von anderen etwas gefragt werde, muss ich eigentlich gar nicht sprechen. Letztes Mal haben wir deshalb diese Regel auch ziemlich relativiert. Es gibt eben verschiedene Fragen und verschiedene Motive beim Fragen. Hier sind sind nicht alle Fragen verboten, sondern nur solche, die mit einem, sagen wir mal, schlechten Motiv gestellt werden. Ich würde es sehr begrüssen, wenn wir diese Diskussion nochmals aufnehmen könnten, weil wir letztes Mal ja gerade durch unsere Regeln gestoppt wurden. Aber ich merke, dass ich jetzt schon wieder gegen Regeln verstosse." Er schaute die Neuen an und sagte: "Ein wichtige Regel ist nämlich auch, dass wir kein Thema haben."


 
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Lisa nahm den Stab, nachdem Peter ihn zögernd zurückgelegt hatte. Sie schaute auch vor allem zu den Neuen: "Man muss sich hier von gar keinen Regeln wirre machen lassen. Man kann alle Regeln vergessen, wenn man dafür eine dialogische Haltung annimmt. In einer dialogischen Haltung folge ich keinen Regeln, aber wenn jemand will, kann er natürlich so viele Regeln darin erkennen, wie er will. Für mich gibt es so etwas wie natürlichen Respekt, der sich als Anstand zeigt, ohne dass ich mir Regeln bewusst bin. Wenn ich jemanden grüsse oder jemandem die Tür aufhalte, mache ich das nicht, weil es ein Regel gibt. Ich habe mir für unseren Dialog vorgenommen, auf alle Regeln zu verzichten und stattdessen zu versuchen, euch allen mit dem grösstmöglichen Respekt zu begegnen. Ich will das an einem Beispiel verdeutlichen, das Peter angezogen hat. Er sagte, dass wir im Dialog kein Thema haben, oder Renate sagte letztes Mal, dass es im Dialog kein Thema gibt. Mit solchen Aussagen definiert man das Sprechen der andern, man erlaubt oder verbietet. Man schreibt ihnen vor, was sie im Dialog sagen oder denken dürfen. Ich habe beschlossen, dass ich nicht weiss, ob Dialoge ein Thema haben oder nicht, sondern dass ich nur darauf achte, ob ich selbst in ein Thema verstrickt bin und deshalb nicht hören kann, was andere sagen."

Renate holt den Stab und sagte ziemlich lange nichts. Dann sagte sie: "Lisa, ich finde so schön, dass Du an diesem Dialog teilnimmst, weil Du immer sagst, was ich gerne sagen würde, wenn ich die Worte finden würde. Dass man den Dialog ganz ohne Regeln sehen kann, finde ich eine wunderbare Idee. Seit wir angefangen haben, sprechen wir immer nur über Regeln, das kann nicht die Idee des Dialoges sein." Sie behielt den Stab. Sie spielt aber auf eine Art mit den Stab, dass ich sehen konnte, dass sie den Stab absichtlich behielt und nicht einfach vergessen hatte, ihn zurückzulegen. Nach ziemlich langer Zeit stand Peter auf und schlug die Klangschale an. Der Klang verflüchtigte sich, dann war es wieder still.


 
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Ich holte den Stab, nachdem ihn Renate zurückgelegt hatte. "Ich habe mir seit letztem Mal ganz viele Gedanken über unsere Veranstaltung gemacht. Hier erscheint mir zunächst alles irgendwie verkehrt und wenn ich es dann bedenke, scheint es mir doch richtig zu sein, ich finde das Wort Antidiskussion von Elmar trifft diese Verkehrung recht gut. Ich helfe mir jetzt durch eine Unterscheidung zwischen einem Dialog und einer Dialogveranstaltung. Den Dialog sehe ich jetzt genau so wie Lisa, ohne Regeln und ohne Vorschriften. Ich unterscheide aber zwischen einem Dialog und einer Dialogveranstaltung. Die Dialog-Veranstaltung verstehe ich als Uebung. Und die Uebung zeigt sich eben darin, dass wir in der Veranstaltung Dialog-Regeln einhalten oder einhalten wollen, obwohl Dialoge keine Regeln haben, die jemand einhalten müsste. Das heisst für mich, dass wir hier einen Uebungsdialog führen, der eben kein richtiger Dialog ist, weil wir üben. Aber natürlich üben wir, indem wir einen richtigen Dialog führen. Das ist paradox, ich meine paradox formuliert. Aber es ist ja auch paradox, dass wir uns bisher fast nur mit Regeln beschäftigt haben, obwohl der Dialog gar keine Regeln hat. Also für mich sieht es so aus. Wir halten uns hier an Regeln. Das sind aber die Regeln der Uebungsveranstaltung, nicht Regeln des Dialoges, obwohl wir uns hier im Dialog an diese Regeln halten. Mir hilft diese Vorstellung, deshalb habe ich sie Euch vorgetragen."

Renate und Lisa wollten beide den Stab holen. Renate sagte lachend: "Ach nimm Du ihn. Du sagst es sowieso schöner als ich." Lisa sagte: "Ich brauche diese Unterscheidung nicht, aber ich finde sehr gut, wenn wir uns erzählen, mit welchen Konstruktionen wir den Dialog begreifen. Ich habe ja letztes Mal gesagt, dass ich im Dialog keine Vorträge hören will. Ich will das aber nicht mehr gesagt haben. Denn ich will natürlich auch diesbezüglich keine Vorschriften machen. Es ist zwar wahr, dass ich die meisten Vorträge, speziell die kognitiven, langweilig finde, aber das sehe ich jetzt als mein Problem. Ihr könnt also reden, wie ihr wollt, äh ich meine, ich muss euch natürlich auch dazu keine Erlaubnis geben." Sie hielt den Sprechstab Renate hin und sagte: "Ich glaube nicht, dass ich schöner reden kann als du."

Renate übernahm: "Mir hilft die Unterscheidung von Rolf. Vielleicht wisst ihr, dass ich Volleyball spiele. Mir ist schon länger bewusst geworden, wieviele Regeln dieses Spiel hat, und dass wir in all den Jahren, die ich mitspiele, noch nie über den Sinn von Regeln überhaupt und über den Sinn von bestimmten Regeln diskutiert haben. Diskussionen gibt es in und nach jedem Spiel darüber, ob und wo Regeln verletzt wurden, vor allem darüber, was der Schiedsrichter nicht oder falsch gesehen hatte, aber die Regel selbst, die waren noch nie Thema gewesen. Ich finde diesen Unterschied zu unserer Veranstaltung sehr erstaunlich." Sie machte eine kleine Pause und fuhr weiter: "Aber jetzt ist mir noch ein anderer Zusammenhang bewusst geworden, nämlich der Unterschied zwischen einen Training und einem Spiel. Seit ich nicht mehr in der Liga spiele, spiele ich in einem Plauschklub, da trainieren wir nicht für einen Wettkampf, sondern nur für uns, weil es uns Spass macht. Meistens trainieren wir gar nicht, sondern spielen einfach Volley. Jetzt erkenne ich diese Differenz auch in unseren Dialogveranstaltungen. Wir sind hier in einem Dialogtraining, aber wir spielen den Dialog." Sie egte den Stab zurück und sagte dabei: "Ich meine nicht, dass wir nur spielen, ich wollte mehr sagen, dass das kein rechtes Training ist."


 
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Heinz übernahm: "Also mir hat das jetzt sehr geholfen. Ich war wirklich hin und hergerissen. Und jetzt kann ich viel besser einordnen, worum es hier geht. Vielleicht wäre es gut, wenn man das jeweils am Anfang sagen würde. Ihr erinnert euch sicher, dass ich letztes Mal gesagt habe, dass ich ganz andere Vorstellungen von einem Dialog mitgebracht habe. Denn ich habe einen Kurs besucht, in welchem ich den Sokratischen Dialog kennengelernt habe. Da geht es fast nur um Fragen und die werden immer an eine ganz konkrete Person gerichtet, nämlich an jene, der man etwas beibringen oder die man von etwas überzeugen will. Das ist ein Kernelement der Rhetorik. Dialog habe ich als Gespräch zwischen zwei Personen verstanden, wobei es wie bei Sokrates um eine höhere Einsicht oder um die Wahrheit geht. Jetzt sehe ich schon, dass es hier um etwas ganz anderes geht, aber immer noch nicht recht, warum wir hier auch keine simplen Verständnisfragen stellen dürfen, abgesehen davon, dass wir jetzt laut Lisa ja wieder alles dürfen, was uns mit einer dialogischen Haltung vereinbar zu sein scheint."

Ich nahm den Stab aus seiner Hand und sagte: "Ich würde gerade nicht sagen, dass wir hier wieder alles dürfen, sondern nur, dass Lisa uns keine Gebote für einen Dialog vorschreiben will. Aber ich komme hier her, um zu üben und finde deshalb, dass wir uns an Regeln halten sollten, ich meine, dass ich sehr froh wäre darüber. Vielleicht sollten wir uns den Sinn unserer Regeln bewusster machen, dann wären die Regeln nicht mehr so abstrakt, und wir wüssten besser, was wir hier eigentlich üben. Letztes Mal war kurz von den Dialogen von Sokrates die Rede. Ich habe auch einige Sokratesfragekurse hinter mir, und die haben mir damals auch sehr eingeleuchtet. Aber eben genau in dem Sinne, dass Fragen rethorisch das beste Mittel sind, wenn man jemanden von etwas überzeugen will. Fragen können ja auch andere Funktionen haben, aber bei Sokrates geht es ausgesprochen darum, jemandem die Wahrheit beizubringen. Dazu muss man aber die Wahrheit schon haben. Also, wer die Wahrheit schon kennt, der sollte den anderen Fragen stellen, damit sie die Wahrheit auch kennenlernen. So hat es Sokrates uns vorgemacht. Im Dialog dagegen, ich meine, in unserm Dialog, so wie ich ihn bisher begreife, geht es darum, dass wir keine Wahrheit kennen und uns deshalb gerade nichts beibringen können. Es geht darum, dass wir zusammen erforschen, was für uns zu sagen möglich ist. Wir orientieren uns dabei an keinerlei Wahrheit, weil wir sie eben im Unterschied zu Sokrates nicht kennen, wir erforschen nur, was für uns alles möglich ist."

Lisa sagte ohne den Stab: "Das sehe ich auch so. Es ist der Unterschied zwischen einer Lehr- und einer Lernveranstaltung. Ist es nicht unglaublich, dass es das Wort Lernveranstaltung gar nicht gibt, ich meine im Duden. Diese Leute können sich nur Lehrveranstaltungen vorstellen. Ich verstehe den Dialog aber als Lernveranstaltung. Wenn Sokrates hier auftauchen würde, oder eine anderer, der uns belehren will, würde ich sofort gehen."


 
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Peter war nicht schnell genug als ich den Stab zurücklegte, Elmar hatte den Stab zuerst. Er wollte ihn Peter geben, aber der sagte, dass er schon warten könne. Elmar sagte: "Ich will auch etwas zu Sokrates und seinen Dialogen sagen. Ihr, oder die meisten von Euch, kennt ja meine Auffassung, wonach man unseren Dialog als Antidiskussion auffassen kann, sozusagen als das Gegenteil von Diskussionen. Dafür habe ich jetzt noch ein zusätzliches Bild gefunden. Ich habe nämlich noch etwas nachgelesen und gefunden, dass der Dialog, so wie wir ihn hier verstehen, weitgehend auf Martin Buber zurückgeht. Martin Buber ist ein, wie soll ich sagen, ein radikaler Jude, der auch in der Zionismusbewegung sehr aktiv war. Er war Religionsphilosoph und hatte den Dialog vor diesem Hintergrund entwickelt. Ich unterscheide damit - etwas oberflächlich - zwei verschiedene Kulturen, die ich gewissermassen durch Wissenschaft und Religion charakterisieren will. Sokrates führt wissenschaftliche Dialoge, Buber führt religiöse Dialoge." Es wurde etwas unruhig im Kreis. Elmar hielt den Stab hoch und sagte: "Wartet bitte noch einen Augenblick, ich will ja nicht missionieren. Ich will nur erzählen, dass man so zwei sehr verschiedene Dialogkulturen erkennen kann, was wir ja letztes Mal schon angesprochen haben. Der sokratische Dialog ist einfach eine ganz andere Sache, darum geht es mir. Es geht mir darum, anhand eines kulturellen Unterschiedes deutlicher zu machen, wie ich den Dialog verstehe. Die Griechen hatten zwar Götter, aber mit Hinblick auf Sokrates waren sie rational. Die Juden und mit ihnen die Christen dagegen haben einen Glauben, den sie in bestimmter Hinsicht über die Vernunft stellen. Daraus ergeben sich zwei verschiedene Denkstile und verschiedenen Gesprächstypen, zwischen welchen wir hin- und heroszilieren. Historisch beschreiben wir uns ja auch so. Die Römer, die ich jetzt einfach zu den Griechen zähle, haben die Juden zunächst unterworfen und wurden dann von nun mehr christlichen Juden ihrerseits unterwandert, wenn man Jesus und sein Gefolge so zuordnen will. Die griechisch-sokratische Denkweise, die bei uns seit der sogenannten Renaissance wieder an der Macht ist, ist unterwandert geblieben, wir leben in diesem multikulti Kulturgemisch aus Religion und Wissenschaft. Und das bricht hier auf, in den zwei verschiednen und unverträglichen Auffassungen von Dialog. Das ist natürlich alles offensichtich verkürzt, weil ich ja keinen langen Vortrag halten will. Ich hoffe, Ihr könnt das Bild trotzdem erkennen."

Peter war wieder aufgestanden und hatte sich wieder gesetzt, als er sah, dass Renate den Stab auch holen wollte. Renate sagte: "Ihr wisst ja, dass mir die Regeln sehr am Herzen liegen. Aber die Regel, wonach wir keine Vorträge halten, sollte natürlich nicht dazu führen, dass jemand eine interessante Sache in nur zwei Sätzen erzählt, weil er meint, dass mehr als zwei Sätze ein Vortrag seien. Ich schlage vor, dass wir ohne weiteres viel länger sprechen und ich will nochmals auf unsere Klangschale verweisen, mit welcher wir ja jederzeit nach Unterbrüchen rufen können, wenn ein Vortrag langweilig wird. Ich würde jedenfalls gerne etwas mehr über die Herkunft des Dialoges und über das Verhältnis der Kulturen erfahren." Als sie den Stab zurücklegte, fügte sie an: "Es muss ja nicht nur einer sprechen, vielleicht wissen andere noch mehr davon".

Peter rief laut: "Aha!" Das hatte ungefähr die gleiche Wirkung, wie wenn er die Klangschale angeschlagen hätte. Es blieb eine ganze Weile still. Dann holte Peter den Stab. Er sagte: "Ich bin wieder etwas überrascht, dass nun Vorträge doch gehen. Aber langsam gewöhne ich mich an solche Ueberraschungen. Vielleicht kommt es eben auf die Art des Vortrages an." Ich glaube, er sah dann die Gesichter im Kreis und reagierte: "Also ich will ja nicht immer nur kritisieren, aber ihr macht es mir nicht leicht. Ich bin ja immer für Vorträge gewesen, und ich würde gerne auch etwas über die Geschichte des Dialoges in verschiedenen Kulturen erfahren. Im Buch von Bohm steht darüber jedenfalls nichts. Ich kann mich auch nicht daran erinnern, dass er den Dialog auf einen Buber, den ich nicht kenne, zurückführen würde. Und dass ausgerechnet die Zionisten diesen Dialog erfunden haben sollen, finde ich auch äusserst, äh seltsam. Ich muss immerhin zugeben, dass sich hier alle meine Vorstellungen laufend verdrehen und verkehren. Vielleicht finde ich es gleich auch noch völlig logisch, wie die zionistischen Israeli den Dialog mit den Palästinensern führen. Ich finde das wirklich alles sehr interessant." Er wollte den Stab offensichtlich Elmar in die Hand geben, aber Elmar zog seine Hände hinter seinen Rücken.


 
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Avital holte den Stab. Sie war nicht zum ersten Mal im Dialog, aber ich konnte mich nicht erinnern, dass sie jemals etwas gesagt hätte. Ich finde überhaupt sehr eigen, ich glaube dem Dialog eigen, dass man am Dialog offenbar sehr gut teilnehmen kann, ohne etwas zu sagen. Das wäre ja auch zwangsläufig nötig, wenn mehr als fünfzig Personen teilnehmen würden. Sie sagte: "Ich bin jüdisch erzogen. Ich habe zu hause viel über den Zionismus gehört und auch etliches dazu gelesen. Und ich kenne auch die Schrift von Martin Buber. Vielleicht ist es typisch, dass er mit dem Zionismus in Verbindung gebracht wird. Ich erkenne darin einen Hang zum Schubladisieren. Ich spüre hier in diesem Kreis keine Ablehnung des Judentums. Vielleicht fällt mir deshalb umso mehr auf, welche Schubladen geöffnet werden und welche nicht. Ich kann jetzt nicht aus dem Stehegreif über diese Verhältnisse vortragen und für ein eigentliches, vorbereitetes Vortragen ist hier ja auch nicht der Ort, aber ich kann schon einige Aspekte in unseren Dialog einfliessen lassen, wenn es passt oder mir nötig scheint. Im Augenblick wollte ich nur auf Schubladen hinweisen, die man vielleicht geschlossen lassen könnte."

Renate stand auf und sagte: "Ich wollte eigentlich nicht mehr moderieren, aber ich bin immer hin und hergerissen. Ich schlage deshalb vor, ihr nehmt das als Vortrag, nicht als Moderation. Ich will zwei Dinge sagen, die ich in einem Vortrag über den Dialog sagen würde, die hier aber einfach sehr gut passen. Natürlich handelt es sich um Regeln. Also die eine Regel lautet ..."

Peter rief: "Die Regel lautet, dass Du den Stab nicht hast."

Renate erschrak. Sie schaute nach dem Stab und liess ihn sich von Avital geben: "Ich bitte um Entschuldigung. Ich weiss nicht, was los ist mit mir. Ich habe einfach ein Gefühl von unerledigten Aufgaben, vermutlich, weil ich ja es war, die Euch zum Dialog eingeladen hat. Ich habe schon mehrfach erwähnt, dass es noch viele Regeln gibt, die wir beachten könnten, aber ich habe nie weitere Regeln genannt. Und jetzt ist mir das wohl als Unterlassungssünde bewusst geworden, weil das Gespräch gerade in diese Richtung ging." Sie schaute in den Kreis, wie wenn sie Erlaubnis zum Sprechen suchen würde, obwohl sie nun den Sprechstab ja hatte. Sie sagte: "Ich will Euch weitere Regeln sagen, obwohl ich nicht mehr darauf insistieren will. Ich habe jetzt den Uebungscharakter der Regeln erkannt. Die erste Regel lautet, dass wir nicht über Menschen sprechen. Wir sagen also nicht, was dieser oder jener ist oder war. Wir müssen nämlich nicht wissen, ob Herr Buber ein Jude oder ein Zionist oder beides war."


 
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Peter sagte: "Das Spiel wird immer verrückter." Und Elmar sagte: "Es wird eine immer konsequentere Antidiskussion".

Renate reagierte nicht darauf, sondern fuhr weiter: "Die andere Regel ist vielleicht gar keine Regel. Es geht darum, dass wir im Dialog, wie Avital sagte, unsere Schubladen erkennen. Und natürlich können wir dabei einander helfen, weil man die Schubladen der andern leichter erkennen kann, als die eigenen. Mir geht es jedenfalls so. In diesem Sinne war der Beitrag von Avital eine Art Moderation, die alle hier immer leisten sollten. Wir sollten uns sofort sagen, wenn wir Stereotypen oder Clichees erkennen." Sie setzte sich und sagte: "Ach, ich weiss jetzt gar nicht mehr, warum ich das unbedingt sagen musste, ich weiss nicht einmal genau, was ich damit sagen will. Ich entschuldige mich nochmals." Sie legte den Stab zurück und setzte sich. Es blieb ziemlich lange still.

Elmar sagte, während er den Stab holte: "Das Spiel ist sehr anspruchsvoll, ich weiss bald nicht mehr, was ich noch sagen darf und was ich trotzdem sagen soll". Als er sich wieder gesetzt hatte, sagte er: "Ich sage nochmals, was ich schon gesagt habe, dann wird es mir vielleicht auch etwas bewusster und vielleicht kann ich es dann klarer sagen. Ich meine, es gibt zwei verschiedene Gesprächskulturen, oder es gibt viel mehr, aber ich unterscheide zwei. Eine der beiden Kulturen habe ich als wissenschaftliche bezeichnet und zu veranschaulichen versucht, indem ich von den Griechen und Römer gesprochen habe, aber im Grunde geht es um die Aufklärungszeit, in welcher das dunkle Mittelalter überwunden wurde. Ich will auch nichts darüber erzählen, wie es wirklich oder historisch war, das dient mir nur als Bild. Die Wissenschaftler haben keinen Gott, sie streiten mit Argumenten. Das bezeichne ich als Diskussion. Es geht darum, wer Recht hat, na ihr wisst ja. Die andere Seite nannte ich Religion, die wir - oder ich - immer noch etwas mit dem dunklen Mittelalter verbinden. Aber hier geht es jetzt mehr darum, dass in der Religion anders gesprochen wird. Und Martin Buber hat das eben zugespitzt." Er schaute Renate an und fragte: "Oder spreche ich so über einen Menschen, was ich nicht tun sollte?"

Avital und Lisa sagte gleichzeit: "Sprich doch einfach. Sag, was Du sagen willst." Und Renate nickte zustimmend.


 
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Elmar sagte: "Ich will Martin Buber nicht unrecht tun, ich sage einfach, was ich verstanden habe. Er sagt, also ich meine, ich habe verstanden, dass es nur eine Religion gibt, in welcher Gott mit Du angesprochen wird, und das ist eben die jüdisch-christliche Tradition, wobei wohl auch der Islam dazugehört, weil er auch auf dem Judentum aufbaut. Bei allen Differenzen ist das Entscheidende das Du. Also wenn ich es recht verstanden habe, würde das Wort Religion nur zutreffen, wenn ein Gott angesprochen werden kann. In anderen Religionen, die dann eben gar keine sind, kann man nur über die Götter sprechen, aber nicht zu ihnen. Nehmt das alles als grobe Idee, die nur dazu dienen soll, ein ganz bestimmtes Gespräch, eine bestimmte Art des Gespräches einzuführen, nämlich das Gebet. Das Gebet ist ein Dialog mit Gott. Im Beten spricht man ..., also ich bete nicht, deshalb kann ich nicht in der ich-Form sprechen. Ich weiss gar nicht, wie das zum Dialog passt, aber jetzt merke ich auch immer deutlicher, dass das, was ich hier erzähle, ein Vortrag ist, in welchem ich über etwas spreche, was ich angelesen habe. Es ist ein Vor- oder Weitertragen, von etwas, wofür ich keine eigenen Worte finde kann." Er hörte auf zu sprechen und legte den Stab zögernd in die Mitte.

Peter sagte ohne den Stab zu nehmen: "Einmal mehr zeigt sich, wie diese Regeln jedes Gespräch unterbinden. Ich verstehe überhaupt nicht, weshalb das ein Vortrag sein soll, und weshalb in diesem Fall, das im Dialog verboten sein soll. Das ist doch alles schlicht absurd."

Eine Zeitlang war es ruhig. Dann nahm Elmar den Stab wieder auf und sagte: "Ja, auf eine Art absurd. Aber absurd ist eine Relation. Absurd heisst einfach, dass wir es nicht gewohnt sind. Wir sind Vorträge und Diskussionen gewohnt, ich meine ich. Und ich bin nicht gewohnt zu beten, genau das meine ich ja mit Antidiskussion. Das eine ist absurd vor dem Hintergrund des andern. Irgendwie ist es doch komisch, wenn ich Euch etwas über das Beten erzähle, obwohl ich nicht bete. Das ist doch dann reines Bücherwissen, das nichts mit mir zu tun hat. Ich merke immer mehr, dass das mit den Regeln gar nichts zu tun hat, ich bin den Dialog nicht gewohnt. Der Dialog ist für mich fremd wie das Gebet."

Elmar war eher leiser als laut geworden, aber er sprach sehr bestimmt. Dann war es wieder ruhig. Nach einer Weile sagte ich ohne Stab: "Vielleicht sollten wir einfach nicht so hartnäckig sein. Wir stossen ununterbrochen an unsere Grenzen im Dialog. Wir, äh, ich lebe eben in einer Diskussionskultur und die kann ich nicht einfach weglegen. Wir sollten - davon abgesehen, dass ich nicht bestimmen kann, was wir sollten - wir sollten uns überlegen, wie wir mit diesem Problem umgehen. Ich glaube, wir sollten uns einige Sachen nochmals grundsätzlich überlegen. Wir würden so einen neuen Dialog erfinden, oder eher, eine neue Dialogveranstaltung". Elmar hatte den Stab wieder hin gelegt und ich hatte ihn aufgenommen und hielt ihn jetzt hoch. "Wir haben ja schon mehrfach erwogen, am Anfang eine Einführung zu machen. Ich habe dabei immer an eine Einführung für die Neuen gedacht, aber wir sind ja alle ganz neu hier. Wir könnten eine Einführung für uns selbst machen, indem wir uns selbst erklären, was wir hier tun. Und das, was wir dann beschreiben, das ist eben unser Dialog."

Daniela holte den Stab ohne Eile. Sie sagte: "Ich bete. Ich habe aber bisher keine Beziehung zwischen unserem Dialog und dem Beten gesehen. Ich finde jetzt sehr schade, dass ich Dich nicht einfach fragen, wie Du diese Beziehung siehst, oder eben dieser Buber. Das interessiert mich wirklich."


 
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Elmar sagte: "Ich habe das so verstanden. Das Gebet ist ein Gespräch mit Gott. Und Gott kann man in diesem Sinne auch nicht fragen. Das heisst, man fragt nicht, weil er keine Antwort gibt, oder? Mein Problem war oder ist ja, dass ich nicht weiss, was die Leute beten. Ich kenne das Konservengebet 'Unser Vater'. Das ist voller Bitten, aber nicht Bitten um Antwort, da sind keine Fragen."

Daniela sagte: "Ich bete das Vater unser, aber nicht als Konserve, sondern sehr bewusst. Ich habe zwei ganze Bücher über dieses Gebet gelesen, die ich Dir gerne ausleihen kann. Gott antwortet schon, aber es ist wahr, er antwortet nicht wie ein Mensch. Ich stelle ja auch Fragen, die ich nicht an Menschen richten würde."

Elmar sagte: "Ich habe Buber so verstanden, dass das, was ich im Gebet zu Gott sage, ich guten Gewissens auch zu Meschen sagen kann. Nein, das stimmt so nicht, umgekehrt. Ich glaube, alles, was ich im Gebet nicht sagen kann, sollte ich auch nicht zu Menschen sagen."

Daniela sagte: "Ich glaube, dass kann er auch nicht gemeint haben. Ich frage im Gebet nie, wie spät es ist, aber sollte ich das deshalb auch keinen Menschen fragen ..."

Renate schlug auf die Klangschale. Als der Ton verklungen war, sagte sie: "Das sind sehr spannende Fragen. Ich verstehe auch, dass diese Fragen einem mitreissen können, aber wir sind hier im Dialog, nicht in einem Zweiergespräch. Sie holte den Stab ohne Eile und sagte: "Mir liegt jetzt noch mehr daran, dass wir us an Regeln halten und uns nicht in interesanten Gesprächen verlieren. Ich finde die Idee, dass wir unseren eigenen Dialog erfinden schön. Natürlich können wir auch eine Dialogveranstaltung ohne Regeln erfinden. Es komt ja nur auf uns an. Aber im Moment haben wir noch Regeln."

Peter rief: "Wenn wir normale Regeln hätten, müssten wir sie nicht durchsetzen, weil sich dann alle freiwillig daran halten würden. Daran, dass es uns so schwer fällt, kann man doch erkennen, dass die Regeln doof sind. Man kann eben nicht einfach Regeln begründen, indem man alles, was normalerweise geschieht, verbietet."

Heinz rief: "Was willst Du denn sonst verbieten? Man kann doch nur verbieten, was ohne Verbot gerade gemacht würde."

Renate liess ihre Schultern fallen. Dann raffte sie sich auf und sagte: "Ich finde, wir sind jetzt an einem Punkt angelangt, wo wir uns wirklich entscheiden müssen."


 
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Lisa nahm Renate den Stab aus der Hand und sagte: "Ich habe mich schon lange entschieden. Ich will an einem Dialog teilnehmen, aber mich interessieren weder Regelsysteme noch Vorträge darüber, wie ein Dialog von statten gehen sollte. Ich habe in den bisherigen Gesprächen sehr viel gelernt. Ich will euch sagen, was ich vor allem gelernt habe. Ich habe gelernt, dass ich in unseren Dialoggesprächen, die mich meistens frustrierten, weil sie nicht so laufen, wie ich mir das vorstelle, sehr viel über mich gelernt habe. Daraus entnehme ich jetzt im Nachhinein, dass diese Gespräche das Gegenteil von frustrierend waren, obwohl sie mich frustrierten. Die Gespräche unterhalten mich. Sie sind nicht Unterhaltung wie seichte Fernsehprogramme, sondern Lebensunterhalt. Wie Elmar sagte, hier scheint alles verkehrt. Aber wenn ich darüber nachdenke, ist mein Alltag verkehrt und hier ist es eben genau umgekehrt. Jetzt frage ich mich, was mich frustriert hat. Ich meinte zuerst, dass mich euer Herumdiskutieren um irgendwelche Regeln frustiert habe, aber wirklich frustriert hat mich, dass ich nicht verstanden habe, worum es euch gehen könnte. Ich war frustriert über mich. Jetzt hat Renate oder Rolf die Sache schon wieder auf den Punkt gebracht. Wir suchen alle und zusammen den Dialog, und wir haben offensichtlich gut versteckte Vorstellungen vom Dialog, die den Dialog zwischen uns unmöglich machen, weil wir von diesen Vorstellungen nicht ablassen können oder wollen. Das Frustrierende ist für mich, dass ich eben solchen Vorstellungen aufsitze und deshalb nicht richtig wahrnehmen kann, was in unserem Dialog geschieht." Sie beugte sich vor. "Aber zum Glück stimmt das auch nicht. Denn wenn ich nur frustriert wäre, wäre ich schon lange gegangen oder gar nicht mehr gekommen. Ich merke oder noch viel mehr, ich ahne, dass ich meine Vorstellungen aufweichen kann. Ich meinte und meine immer noch, dass wir weder Regeln noch Vorträge brauchen, aber es ist mir gelungen und es gelingt mir immer besser, diese Vorstellung in der Schwebe zu halten. Ich dachte zuerst, dass ich euch nicht verbieten könne, Vorträge zu halten und Regeln abzumachen. Das ist wahr, aber nicht entscheidend. Entscheidend ist für mich, ob es mir gelingt, auch dann zuzuhören, wenn ihr Vorträge über Regeln haltet. Dann geht es für mich vorerst nicht darum, ob ich mit euren Regeln einverstanden bin oder nicht, sondern darum, dass ich die Vorstellung, wonach Regeln notwendig sind, in der Schwebe halten kann."


 
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Renate hob ihren Zeigefinger und Lisa sagte: "Ja, bitte". Renate sagte: "Ihr seht ja, dass ich meine Regeln auch nicht so wichtig finden kann, dass ich sie einhalten würde. Ich bitte um Enschuldigung, dass ich mich hier so vordränge, aber, Lisa, ich muss einfach nochmals sagen, wie sehr mir gefällt, was Du sagst. Ganz genau darum geht es auch mir in diesem Dialog, du sprichst mir wieder aus dem Herzen. Du zeigst uns immer wieder, dass man das im Dialog sagen kann, wenn man das richtige Gefühl dafür hat. Und du hast überdies genau gesagt, was David Bohm in seinem Buch auch geschrieben hat. Es geht darum, dass wir unsere Vorstellungen in der Schwebe halten, vor allem die Vorstellung, dass etwas ganz bestimmtes notwendig sei."

Lisa sagte: "Ja, so habe ich das hier in unseren Gesprächen verstanden. Ich bin beispielsweise ganz sicher, dass wir keine Regeln brauchen. Entscheidend ist aber, ob ich warten kann, wohin uns unser Dialog über Regeln führen wird. Wenn ich weiss, das wir keine Regeln brauchen, macht mich die Diskussion über Regeln nervös, weil ich sie dann unwichtig finde. Wenn es mir aber gelingt, mein Wissen in der Schwebe zu halten, kann ich zuhören, was alles über Regeln gesagt werden kann. Da ist viel Potential für Neues. Und im Nachhinein merke ich eben, dass ich viel gelernt habe, obwohl ich oft ziemlich nervös wurde." Sie lachte heiter und sagte: "Um das nochmals zu sagen, gelernt habe ich, dass ich es etwas aushalten muss, wenn ich merke, dass die andern, also Ihr mit andern Vorstellungen in den Dialog kommen als ich." Dann legte sie den Stab in die Mitte und sagte: "Diesen Stab würde ich auch nicht mehr brauchen, aber jetzt habe ich ihn lieb gewonnen, weil er irgendwie zu meiner Dialoggeschichte gehört".

Peter holte den Stab: "Ich muss zugeben, dass ich das alles im Buch von Bohm schon gelesen habe, aber ich glaube, ich habe es jetzt erst verstanden. Dabei sein, ist schon etwas anders als darüber lesen. Das in der Schwebe halten hat jetzt für mich eine viel praktischere Bedeutung, und auch das mit den vermeintlichen Notwendigkeiten, die uns plagen. Also ich habe jetzt auch ein Menge gelernt."

Heinz sagte: "Ich auch. Ich fragte mich schon ziemlich lange, ob wir je einen grünen Ast erreichen würden, jetzt sehe ich nur noch grün um mich. Jetzt bin ich total gespannt, ob wir uns endlich mehr den Inhalten zuwenden können. Aber sowieso", sagte er zu Lisa gerichtet, "will ich dir danken für die Einsicht, die du mir ermöglicht hast."


 
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Heiner holte den Stab bei Peter und sagte: "Ich sitze hier schon lange im Grünen. Mir fielen die Blätter schon letztes Mal von den Augen. Ich habe Euch ja erzählt, was ich alles loslassen musste, um meine permanenten Kopfschmerzen loszuwerden. Lernen im eigentlichen Sinn ist immer frustrierend, weil man immer etwas loslassen muss. Manchmal gewinnt an beim Lernen einfach so viel, dass man den Verust des Losgelassenen vergisst. Ich will jetzt sagen, welche Normalität ich jetzt gerade in der Schwebe halten muss. Ich muss die Unterscheidung von Elmar in der Schwebe halten. Vielleicht ergibt sich ja daraus plötzlich eine überraschende Konvergenz zu religiösen Wissenschaftlern, um nicht zu sagen, zu jüdisch unterwanderten Griechen. Im Moment sehe ich die Sache noch lieber noch durch die Unterscheidung zwischen Realismus und Konstruktivismus. Im Konstruktivismus geht es ja eigentlich um das Gleiche. Ich konstruiere mir meine Welt und muss mich damit abfinden, dass die andern das auch tun. Ich kann dann schlecht annehmen, dass meine Konstruktion in irgendeinem Sinn richtiger wäre. Ich muss sozusagen aushalten, dass die andern andere Welten konstruieren. Positiv wird die Sache natürlich für mich, wenn die andern aushalten, dass ich auch eine Welt erzeuge, die nicht unbedingt die gleiche ist wie die ihre."

Eva sagte: "Mir hat Dein Ansatz schon letztes Mal gefallen. Ich weiss aber leider nicht sehr viel vom Konstruktivismus."

Peter sagte: "Ich will mich nicht zum Richter aufspielen, aber merkst Du, dass Du jetzt mit Heiner gesprochen und ihm eine Frage gestellt hast und den Sprechstab nicht hast und Dich insgesamt nicht an unsere Regeln hälst?"

Eva sagte: "Wenn Du willst. Du machst ja das gleiche mit mir. Ich kann es aber auch etwas offener sehen. Ich habe einfach zu allen gesagt, dass ich gerne mehr über den Konstruktivismus hören würde, und über das Verhältnis zwischen diesem Konstruktivismus und dem Dialog. Mich interessiert, wie wirklich die Wirklichkeit ist, und was ich im Dialog darüber finden kann."

Peter sagte: "Ok, ich wollte Dir nicht zu nahe treten, bitte entschuldige. Ich musste nur einmal mehr darauf hinweisen, dass jedes normale Verhalten - ich finde Deine Frage nämlich sehr normal - unsere Regeln verletzt. Ich schaffe es wohl einfach nicht, diese Erkenntnis loszulassen, ich meine in der Schwebe zu halten."

Renate sagte: "Ich schlage vor, dass wir uns gegenseitig ermahnen. Wir sollten, ich meine, ich will solche Ermahnungen als Hilfe, nicht als Angriffe sehen. Ich sehe darin einen Sinn dieser Veranstaltung. Und ich finde umgekehrt, dass Heiner durchaus etwas ausführlicher berichten darf. Der Dialog ist eben auch gegen bestimmte Anstandsregeln, an die wir uns halten, weil wir so erzogen wurden. Wir trauen uns nicht oder wir, ich finde es unanständig, wenn ich die ganze Zeit spreche und ewig lange Ausführungen mache. Ich würde aber besser als unanständig empfinden, wenn ich zu wenig sage, wenn ich zu viel voraussetze. Das ist unser Dillema mit den Vorträgen."


 
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Peter sagte: "Ich muss es sagen. Das ist unser Dilemma schlechthin. Anstelle eines Vortrages könnte eine Sache auch als Thema behandelt werden, aber das verbieten wir uns auch. Wir verbieten uns einfach alles."

Renate sagte: "Ok, jeder muss sagen, was er sagen muss. Ich will das in der Schwebe halten. Das meine ich sehr ernst. Ich behalte Deinen Beitrag bewusst in meinem Kopf. Und jetzt verhalte ich mich auch bewusst, wenn ich sage, dass Heiner oder sonst jemand durchaus etwas zum Verhältnis zwischen Konstruktivismus und Dialog sagen könnte, weil Eva dieses Verhältns ja problematisiert hat. Wir müssen das nicht zum Thema machen, aber wir können darüber sprechen."

Heiner, der den Stab immer noch in den Händen hatte, sagte: "Ich habe das eigentlich schon gesagt. Ich habe nur nicht gesagt, wie ich den Konstruktivismus interpretiere. Ich will hier aber auch keine lange Einführung in den Konstruktivismus geben. Kurz gesagt geht es um folgendes. Jeder Mensch konstruiert sich sein Wirklichkeit selbst. Und zwar bekommt er dazu keine Instruktionen von der Aussenwelt. Er macht .., das heisst ich mache bestimmte Annahmen und schaue, ob ich mit diesen Annahmen gut leben kann. Wenn ich mit meinen Annahmen gut leben kann, verwende ich sie weiterhin, andernfalls mache ich neue Annahmen. Diese Annahmen haben nichts zu tun mit einer Wirklichkeit, weil ich die Wirklichkeit auf keine Weise erkennen kann. Ein gutes Bild, das mir gut gefällt, ist folgendes. Ein Blinder geht durch einen Wald. Er findet einen Weg zwischen den Bäumen. Er weiss dann, wo er lang gehen kann, er weiss also, wo keine Bäume stehen, aber er weiss nicht, wo die Bäume stehen. Er weiss nichts über den Wald, er weiss nur, was sich für ihn bewährt hat. Wenn ich mit Euch spreche, weiss ich nie, ob ihr mich verstanden habt, ich weiss nur, dass ihr nicht reklamiert, falls ihr nicht reklamiert. Wenn jemand von Euch sagen würde, dass dieses oder jenes nicht stimme, wäre ich quasi gegen einen Baum gelaufen. Ich hätte etwas gesagt, was hier bei Euch nicht geht, nicht einfach durchgeht. Wenn aber niemand Einwände macht, heisst dass nicht, dass ihr mich verstanden habt und schon gar nicht, dass ihr einverstanden seid, sondern nur, dass ich das ohne Widerspruch sagen konnte. Es ist sozusagen eine negative Dialektik. Ich merke nur, was nicht geht." Er machte eine Pause, aber niemand reagierte. Dann sagte er: "Jetzt könnte ich denken, dass Ihr einverstanden seid, aber das denke ich nicht. Ich denke, dass meine Worte bei Euch jetzt gerade keine Störung verursachen, also dass Ihr mit meinen Worten leben könnt, weil sie irgendwie zu Euren Auffassungen passen, oder eben wenigstens ganz unwichtig erscheinen. Es sind Worte, die jetzt hier durchgehen."


 
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Eva sagte: "Es ist Dir also nicht .. ich meine, um es unseren Regeln gemäss zu formulieren, im Dialog muss man sich nicht verstehen. Man probiert oder ich probiere einfach Sachen so zu sagen, dass andere nicht reklamieren ..."

Brigitt unterbrach sie: "Darin erkenne ich eine Art Gegenteil zu meiner Frage, die ich früher gestellt habe und die mich immer noch beschäftigt. Ich fragte Renate, ganz am Anfang unseres Dialoges, ob sie nur höre, was ihr passe, weil sie so etwas ähnliches sagte, für mich jedenfalls. Jetzt scheint es so, dass wir, wenn es uns passt, nicht rekamieren, und wenn es uns nicht passt, dann widersprechen wir. In den meisten Fällen oder sogar in allen Fällen hören wir aber nicht, was der andere sagt, sondern wir hören etwas in unserer Welt, die eine eigene Welt ist. Ich sage es vielleicht etwas undeutlich, aber ich finde diese Ideen wirklich schrecklich. Ich kann darin einfach nichts dialogisches sehen, wenn keiner den andern verstehen will und auch keiner versucht, verstanden zu werden. Ich glaube, das könnte unsere chaotischen Gespräche hier erklären, aber ich bezweifle sehr, dass der Dialog, welcher auch immer, so gemeint sein könnte."

Heiner sagte: "Ich spreche ja nicht darüber, was ich gerne hätte, sondern darüber, was ich wissen kann und was nicht. Wenn ich naiv bin, glaube ich jederzeit, dass Ihr mich verstehen könnt und ich spreche ja auch immer so, als ob das möglich wäre ..."

Eva sagte: "Ich finde diese Idee auch schrecklich. Das tönt alles sehr autistisch. Ich meine, wir sind doch hier, weil wir miteinander sprechen wollen. Besagt denn Dein Konstruktivismus, dass das gar nicht möglich sei? Was machen wir denn Deiner Meinung nach hier?"

Heiner sagte: "Also ich sehe das genau umgekehrt. Ich sehe, dass wir hier sind und miteinander sprechen. Deshalb kann mir kein Konstruktivismus der Welt sagen, dass das nicht möglich sei. Ich weiss nicht, wie gut wir uns verstehen, aber ich würde keinem Konstruktivismus glauben, wenn er sagen würden, dass wir uns nicht verstehen können. Ich verstehe den ganzen Konstruktivismus eben umgekehrt, negativ. Der Konstruktivismus, oder besser gesagt, ich sage, dass ich nicht wissen kann, ob Ihr mich verstanden habt. Ich weiss es gerade nicht, also kann ich weder das eine noch das andere behaupten. Mir sagt der Konstruktivismus vor allem, dass ich mir überlegen muss, wo und inwiefern es wichtig wäre zu wissen, ob wir uns verstehen oder nicht. Vielleicht spielt das doch überhaupt keine Rolle. Vielleicht können wir unabhängig davon sehr glücklich sein. Meine Kopfschmerzen und meine Depressionen bin ich jedenfalls losgeworden, seit ich solche Fragen bewusst in der Schwebe halte. Und dabei hilft mir eben die konstruktivistische Theorie." Er legte den Sprechstab in die Mitte. Dann hob er ihn nochmals auf, und legte ihn wieder hin, ohne etwas zu sagen.


 
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Lisa holte den Stab und sagte ziemlich lange nichts. Dann sagte sie: "Ich kenne den Konstruktivismus nicht. Ich muss auch nicht wissen, was Konstruktivismus ist. Ich versuche zuzuhören, was hier gesagt wird. Mir ist egal, zu welchen Theorien das passt. Ich mache mir jetzt Gedanken über das, was gesagt wurde, nicht über Theorien, die man scheinbar kennen müsste." Sie machte eine Pause. "Ich habe jetzt in unserem Gespräch gemerkt, das ich mir eigentlich nie Gedanken darüber mache, ob ich verstanden werde. Manchmal - oder eigentlich sogar sehr oft - merke ich, dass ich nicht recht verstanden wurde. Das passt mir natürlich nicht, um es einmal so zu sagen. Wenn ich kann, versuche ich dann das Missverständnis zu klären. Aber im umgekehrten Fall, also wenn ich nicht merke, dass ich nicht verstanden wurde, hm ... dazu habe ich mir keine Gedanken gemacht. Wenn ich jetzt darüber nachdenke, merke ich, dass ich nie einfach angenommen habe, dass ich verstanden worden sei. Vielmehr habe ich dazu gar nichts angenommen, wozu auch. Ich würde nicht sagen, dass es keine Rolle spielt, ob ich verstanden werde oder nicht, aber ich merke jetzt schon, dass es in gewisser Hinsicht keine Rolle spielt. Ich muss noch etwas darüber nachdenken."

Elmar übernahm den Sprechstab: "Ich bin da anders als Lisa. Ich sehe in den Theorien oder in der Philosophie ein grosses Potential zu ganz praktischen Fragen. Oft hilft mir die Philosophie bestimmte Fragen als Scheinfragen zu erkennen, die man besser durch andere Fragen ersetzt. Ich meine, wenn die klügsten Köpfe schon lange darüber nachgedacht haben, können wir doch davon etwas profitieren. Ich nehme also theoretisch begründet an, dass wir nie verstehen werden, was verstehen heisst, und dass es deshalb gar nicht sinnvoll ist, danach zu fragen, ob wir uns verstehen. In der Praxis genügt es, wenn wir merken, wann und wo wir uns nicht verstehen. In diesem Sinn kann man sagen, dass es auch im Dialog darum geht, dass wir nicht nicht verstanden werden. Dieses nicht-nicht löst sich aber nicht einfach auf, das ist eben Logik ..."

Brigitt unterbrach auch ihn: "Das sind doch Spitzfindigkeiten. Ich will verstehen und verstanden werden, aber ich verstehe gar nicht, worüber wir jetzt eigentlich sprechen."

Peter sagte: "Ich bin wohl der, der am meisten gegen unsere Regeln ist, aber trotzdem; wir haben abgemacht, uns an unsere Regeln zu halten."


 
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Elmar hob den Stab hoch und sagte: "Ich entschuldige mich, ich habe mich mitreissen lassen und bin deshalb etwas spitzfindig geworden. Ich wollte etwas über unseren Dialog sagen. Für mich ist der Dialog eine ganz eigenartige Sache, die ich besser verstehen möchte ..."

Brigitt unterbrach ihn wieder: "Eben verstehen!"

Elmar fuhr weiter: "Klar verstehen. Aber das heisst für mich, dass ich den Dialog verstehe, nicht dass ich Dich verstehe. Wenn Du etwas sagst, sagen wir, wenn Du etwas auf unser Buffet stellst, kann mir das helfen, den Dialog oder etwas anderes zu verstehen. Dazu muss ich aber nicht Dich verstehen, denn ich kann den Dialog ganz anders verstehen als Du. Vielleicht könnten wir uns gar nichts sagen, wenn wir alles gleich verstehen würden."

Eva hob ihre Hand auf. Elmar gab ihr den Sprechstab. Sie sagte: "Du bist also offenbar auch ein Konstruktivist. Ich habe verstanden, dass wir den Dialog verschieden verstehen, aber ich habe noch nicht verstanden, wie Konstruktivisten den Dialog verstehen. Ich habe den Konstruktivismus nicht verstanden, aber das sehe ich wie Lisa. Ich muss nicht den Konstruktivismus verstehen. Ich würde gerne verstehen, wie Ihr - meinetwegen als Konstruktivisten - den Dialog versteht." Sie brachte den Stab Elmar zurück, welcher ihn Heiner hinhielt.

Peter stand auf aund nahm den Stab aus Elmars Hand: "Es ist vieleicht etwas peinlich, dass ausgerechnet ich ... Ich kann jetzt aber den Sinn der Regeln immer besser sehen und bitte Euch deshalb, mit Euren Zweiergesprächen aufzuhören und wieder in die Mitte zu sprechen. Oder genauer gesagt, das habe ich von Lisa gelernt, ich bitte Euch nicht, ich sage in die Mitte, was mir gefallen würde. Mir würde gefallen, wenn wir uns an die Regeln halten würden."


 
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Heiner nahm den Stab, den ihm nun Peter hinhielt, obwohl das gegen unsere Regeln war: "Da Ihr Euch nicht so sehr für Konstruktivismus interessiert, sondern mehr für den Dialog, sage ich einfach nochmals, wie ich den Dialog sehe. Was ich sage, passt einfach gut zu meiem Konstruktivismus, aber ich kann es gut ohne Konstruktivismus sagen. Ich sage es einfach mit unseren Regeln. Im Dialog spreche ich in die Mitte. Ich spreche also nicht zu einer bestimmten Person und es geht deshalb nicht darum, ob ich von einer Person richtig verstanden werde. Es geht darum, dass ich meine Aussagen auf unser Buffet stelle, und dass die Aussage dort von jenen genommen wird, die etwas damit anfangen können. Vielleicht werde ich verstanden oder eben nicht. Wichtig sind meine Worte, und dass sie jemandem etwas nützen. Das wäre eben auch möglich, wenn ich nicht verstanden werde. Oder sagen wir es so: Es könnte sein, dass jemand meine Worte versteht, dass ich selbst aber etwas ganz anderes meinte. Wenn wir etwas schlau darüber reden wolen: Ich habe dann leider nicht verstanden, was ich sagte, aber der andere hat es verstanden, wobei er dann aber mich nicht verstanden hat."

Elmar sagte: "Ja, ich habe das genau so verstanden, und ich kann darin auch den Konstruktivismus erkennen. Was Heiner zuletzt sagte, ist doch richtig paradox: Jemand versteht was ich sgen, wenn er mich nicht versteht, weil ich etwas aderes meine. Im Dialog haben wir eine Auflösung dieser Paradoxie, indem wir merken, dass eine bestimmte Art von Verstehen nicht nötig oder nicht überprüfbar ist. Im Alltag genügt es, zu merken, wenn ich nicht verstanden wurde. Im Dialog gehen wir aber noch weiter. Wir lassen ja bewusst mit einer Regel nicht zu, dass jemand zurückfrägt und so ein allfälliges Nichtververstehen signalisieren kann. Mir ist jetzt durch diese Paradoxie auch ein guter Grund dafür in den Sinn gekommen. Wenn ich etwas selbst nicht verstanden habe und dann gefragt werden, liefere ich mein Missverständnis nach und verhindere so, dass andere verstehen könnten, was ich gesagt habe."

Renate ging zur Klangschale, sie schlug sie aber nicht an, sondern sagte: "Ich finde das eine sehr interessante Diskussion und bin hin und her gerissen. Ich möchte Euch eine kleine Pause vorschlagen, eigentlich würde ich gerne die Schale zum klingen bringen ..." Sie schlug die Schale an und fuhr weiter: "Aber der Klang ist zu kurz. Ich hätte gerne einen Klang von einigen Minuten. Wäre es möglich, dass Ihr diesen Wunschklang eine Zeitlang hört und wartet?" Sie setzte sich wieder.


 
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Nach ein paar Minuten sagte Renate: "Ich danke Euch. Mir war diese Verlangsamung jetzt sehr wichtig, weil sich wieder alle meine Vorstellungen gedreht haben. Ich verstehe noch nicht, was läuft, aber ich glaube von mir aus könnten wir mit dem Dialog weiterfahren. Die Klangschale hat mir jetzt geholfen." Sie schaute in die Runde und holte den Sprechstab, den Heiner zurückgelegt hat. "Ich merke immer wieder, wie sehr ich in meinen Konventionen gefangen bin, in meinen scheinbar normalen Vorstellungen darüber, was ein gutes Gespräch ist. Und ich merke immer besser, dass diese Regeln einen Sinn haben, der mir noch gar nicht richtig bewusst ist. Je mehr wir darüber nachdenken, desto paradoxer wird mir das alles."

Brigitt sagte: "Ja, paradox ist ein gutes Wort dafür. Es könnte sein, dass wir uns die Sache so unglaublich kompliziert machen, weil wir einfach kein echtes Gespräch wollen, äh, das meinte ich nicht so, ich meine, ... ich weiss selbst nicht recht, wie gesagt: pradox."

Heiner nahm den Stab und sagte: "Ja, paradox. Und kompliziert und komplex. Und zum verrückt werden. Was ich uch sagen wolte, ist, das das alles ganz einfach ist, wenn man es auf eine bestimmte Weise betrachtet ..."

Eva sagte: "Du meinst eben, wenn man den Dialog kostruktivistisch betrachtet!"

Heiner sagte: "Lassen wir dieses Wort einfach weg. Die Betrachtungsweise macht und löst Paradoxien. Wenn ich eine Sache auf eine bestimmte Weise beobachte, sehe ich Paradoxien und wenn es mir gelingt, die Sache anders zu sehen, lösen sich die Paradoxienen auf. Mir hat dr Konstruktivismus geholfen, aber jeder wird vielleich mit seiner Theorie glücklich. Mir ging es ja auch nicht um vermeintliche Paradoxien in einem Dialogspiel, ich war ernsthaft krank, ich war richtig depressiv, weil mich jedes Nachdenken immer in meine Verstrickungen führte. Jetzt sehe ich, dass einige Menschen mit dem Dialog, also mit unserem Dialog riesige Probleme haben, und das erinnert mich an meine Geschichte und vor allem daran, wie ich meine Probleme lösen konnte, indem ich die Perspektive wechselte. Ich habe keine Heilslehre für Euch, ich sage nur, dass es in solchen Fragen wohl immer auf die Perspektive ankommt."

Brigitt sagte: "Du meinst, auf die kostruktivistische Perspektive".


 
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Heiner sagte: "Mir ist egal, wie Ihr das nennt. Ich sage gerne nochmals, worauf ich mich bezogen habe oder ziehe. Es geht um die Vorstellung, dass Verstehen und Verstanden werden wichtig sei. Das entspricht einer bestimmten Perspektive. Und einer andern Perspektive zufolge, kann ich gar nie wissen, ob ich verstanden wurde. In dieser Perspektive ist es logischerweise unwichtig."

Renate sagte: "Ganz logisch finde ich diese Schlussfolgerung nicht. Es könnte doch sein, dass ich es zwar nie wissen kann, dass es aber trotzdem wichtig ist. Mir würde diese Formulierung besser zu sagen."

Heiner sagte: "Mir fällt auf, dass Du den Stab nicht hast. Mir scheint, der Stab diene der Verlangsamung und Dir liege sehr iel an der Verlangsamung unseres Dialoges. Ich will niemanden kritisieren. Ich sage nur, was mir auffällt. Ich habe den Stab gerade, weil ich ihn unanständigerweise nicht zurückgelegt habe. Also sage ich noch etwas, obwohl das nicht ganz anständig ist. Ich finde, im Dialog geht es ausgesprochen darum, dass jeder merkt, welche Formulierungen ihm gefallen oder besser zusagen. Es geht gerade auch ausgesprochen nicht darum, dass un die gleichen Formulierungen gefallen sollten. Wir sollten - falls wir etwas sollten - uns nur an unsere Regeln halten. Aber vielleicht ist das meine Formulierung und Ihr findet andere Formulierungen besser." Er legte den Stab in die Mitte. Dann blieb es eine ganze Weile still.

Ich holte den Stab und sagte: "Mir wäre sehr wichtig, dass wir uns an unsere Regeln halten. " .


 
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Renate stand auf und sagte: "Ich glaube, das waren perfekte Schlussworte. Wir lassen das so stehen und weiterwirken und schauen im nächsten Dialog, was daraus geworden ist. Ich danke euch allen für's Mitmachen und würde mich sehr freuen, wenn ihr nächstes Mal wieder dabei wäret." Alle blieben sitzen und schauten Renate an. Ich wunderte mich sehr über dieses abrupte Ende und mir schien, die andern wunderten sich alle auch. Aber niemand sagte etwas. Schliesslich sagte Renate: "Man muss aufhören, wenn die Stimmung ganz oben ist. Lasst uns noch ein Bier trinken!"

* * *

Im Vorbahnhof sagte Peter laut genug, um alle Aufmerksmkeit aus den vereinzelten Gesprächen abzuziehen: "Also mir ist jetzt ziemlich unklar, wie wir unseren nächsten Dialog gestalten wollen. Ich weiss nicht, ob wir diesbezüglich jetzt etwas beschlossen haben oder welche Konsequenzen wir aus der heutigen Erkenntnis ziehen."


 
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Lisa sagte: "Wir haben gar nichts beschlossen. Ich gehe davon aus, dass wir uns zu einem Dialog treffen und ich kann dir sagen, dass ich dort versuchen werde, mich nicht von der Vorstellung eines Vortrages irritieren zu lassen. Wir sagen einfach, was wir sagen und", sie machte ein Pause und hob ihr Bierglas und fügte lached an: "Wir haben ja den Gong". Alle lachten.

Etwas später sagte ich, dass ich für meine Ankündigungen von Dialogen e-mail-Adressen von potentiell interessierten Leuten sammle. Ich bat alle, mir entsprechende Adressen von Freunden und Bekannten zu schicken. Ausserdem erzählte ich, dass ich ein Homepage eröffnet habe, wo allfällige News zu lesen wären, wo aber vor allem auch Texte von uns zum Thema Dialog publiziert werden könnten. Die Texte könne man mir einfach mailen. Renate sagte: "Das ist ja irre. So werden wir weltbekannt. Ich finde super, dass Du diese Aufwände leistest." Ich antwortete: "Ach, wenn man ohnehin ein Hompage hat, ist das kein Aufwand. Jetzt steht da noch fast nichts, eigentlich nur, wann und wo wir uns treffen. Aber vielleicht könnten wir mit der Zeit etwas über den Dialog schreiben. Ein kleine Einführung, die wir dann aufgrund unserer Erfahrungen laufend verbessern könnten. Peter, du kannst mir ja mal Deinen Vortrag, oder Deine Vorträge schicken. Das wäre ein Anfang." Peter winkte ab: "Ich habe das nicht ausformuliert, ich habe nur einige Stichworte". Ich sagte: "Also an alle, es ist so etwas wie ein schriftlicher Dialog. Das WWW kann man eigentlich ohnehin so sehen."

* * *

Ich bekam in kurzer Zeit etwa hundert e-mail-Adressen und drei kurze Texte, die ich auf die Homepage stellte. Dieser kleine Aufwand veränderte sowohl meine Sicht auf den Dialog als auch meine Sicht auf des WWW. Mir schien es plötzlich kein Zufall mehr, dass ich den Dialog und das Internet zur gleichen Zeit kennenlernte. Den mail-Versand mache ich seit dieser Zeit immer jeweils ein Woche von den Dialogterminen. Anfänglich hatten wir für diese Einladungen kleine Texte geschrieben oder Aphorismen gesucht, die dann im Dialog oft aufgegriffen wurden. Mit der Zeit wurden die Einladungen nüchterner, dafür entwickelte sich die Homepage immer mehr, auf welche ich in den e-mail-Einladungen natürlich verweise.


 
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Verheissungen

Unmittelbar vor dem nächsten Dialogtermin hatte mich Renate angerufen und gesagt, dass sie nicht an den Dialog kommen könne. Sie habe nur noch mich erreichen können und bitte deshalb eben mich, die Leitung der Veranstaltung zu übernehmen. Renate sagte: "Im Prinzip muss man ja nichts tun, man muss einfach dort sein und mitmachen. Die Klangschale und den Stab habe ich letztes Mal bei Elmar gelassen, der sicher dort sein wird, weil er ja den Schlüssel hat. Es geht ja nur darum, das jemand die Leute begrüsst und natürlich darum, dass mich jemand entschuldigt. Das kannst du doch tun, oder? Bitte. Das ist wirklich blöd, aber es geht einfach nicht anders."

Ich sagte: "Ja kar. Würdest Du denn am Anfang eine kleine Einführung machen?" Renate sagte: "Ich weiss es nicht. Ich glaube, ich würde es wieder so machen, wie letztes Mal, aber du kannst natürlich machen, was in deinen Augen Sinn macht. Vielleicht ist ja Lisa auch da, oder jemand anderer hat eine gute Idee. Ich glaube, wir können das jetzt ziemlich entspannt angehen, es werden ja wohl wieder mehrheitlich dieselben Leute sein, meinst du nicht." Ich antwortete: "Doch, doch, das meine ich auch. Ich habe jetzt übrigens ein Buch von Vilém Flusser, das Kommunikologie heisst, nochmals gelesen. Ich habe es vor ein paar Jahren gelesen, ich konnte mich aber nur noch schwach erinnern, dass er über den Dialog schreibt. Kennst du das Buch?" Sie sagte: "Nein, sollte ich es lesen?" Ich sagte: "Mir hat es jetzt, wo wir unseren eigenen Dialog erfinden wollen, sehr viel gebracht. Ich glaube, ich werde im Dialog etwas davon erzählen, selbst wenn Lisa auch dort ist." Renate sagte: "Ja da werde ich ja wieder viel verpassen. Aber ich bin froh, dass du zum Dialog schaust. Und vielleicht hast du Lust, mir später davon zu erzählen." Ich antwortete: "Was ich im Dialog erzähle, kommt zu dir, ob du nun gerade dabei bist oder nicht. Es gibt eine Art morphogentisches Feld für alle Inhalte des Dialoges. Alle, die teilnehmen, hören alles, was dort gesagt wird, auch wenn sie einmal nicht dabei sind."

* * *

Ich war bewusst etwas früher in der Bibliothek. Ich stellte die Stühle in drei Reihen. Ich musste ein paar Mal verhindern, dass die Stühle zu einem Kreis umsortiert wurden. Die meisten der Teilnehmenden standen in kleinen Gruppen zusammen. In die Stuhlreihen setzte sich niemand. Um halb sieben sagte ich laut: "Hört bitte mal zu. Renata kann heute leider nicht kommen. Sie hat mich gebeten, den Dialog zu leiten, das heisst, zu leiten gibt es hier ja nichts, aber, na ihr wisst schon. Ich bitte euch also Platz zu nehmen, damit wir anfangen können."


 
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Peter fragte: "Warum willst du nicht, dass wir einen Kreis machen?"

Ich antwortete: "Ich möchte heute mit einem Vortrag beginnen. Keine Angst, er dauert nur ganz kurz. Bitte setzt euch. Wer gar keine Lust auf einen Vortrag hat, kann noch eine Zigarette rauchen, solange wird der Vortrag nämlich längstens dauern." Alle setzten sich und ich stellte mich vor den Reihen auf.

"Dieser Vortrag handelt vom Vortrag. Wir haben ja im Dialog von Vorträgen gesprochen, jetzt kommt der Vortrag im Vortrag. Wenn jemand einen Vortrag hält, ihr hört wohl, dass ich nicht in der ich-Form spreche, sondern darüber, wie es wirklich ist, steht er vorne und die Zuhörer sitzen in Reihen und schauen nach vorne. Das ist die Vortragsarchitektur. Man kennt sie vom Theater, von der Kirche, vom Kino, von der Schule, etwas versteckterweise auch von Radio und Fernsehen. In diesem Setting besteht ein Gefälle, die Vortragenden wissen schon, was vorgetragen wird, die Zuhörer - das seid ihr - wissen es noch nicht. Weil ich jetzt einen Vortrag halte, sitzt ihr vernünftigerweise in Reihen und schaut nach vorne. In dieser Architektur kann man auch sagen, was vorne ist. Ich stehe vorne. Es gibt auch andere Vortragsarchitekturen, eine typische ist die Arena. In der Arena sitzen die Zuschauer in einem Kreis. In der Areana gibt es normalerweise keine Vorträge, aber es wird auch etwas vorgetragen. Man kennt die Arena vom Zirkus und von vielen Sportveranstaltungen und natürlich vor allem von den griechischen Römern, wenn ich an die Kulturgeschichte von Elmar anschliessen darf. Die Arena ist für Zuschauer, nicht für Teilnehmer. In der Arena schauen alle Zuschauer nach vorne, also nicht in den Kreis, in welchem sie selbst sitzen, wenn wir mal von den Operguckernguckern der feinsten Gesellschaften absehen. In der Arena interessiert mich, was vorne läuft, nicht was im Kreis passiert. Ich bitte euch jetzt eine Arena zu bauen. Wir bauen sie nicht kreisrund, sondern nur etwa drei Viertel eines Kreises, damit ich niemanden im Rücken habe." Alle blieben sitzen. Also sagte ich: "Das war ernst gemeint. Bitte baut die Stühle in eine neue Architektur, in eine Arena um. Wir brauchen nachher für den Dialog ohnehin einen Kreis, oder?" Jetzt standen alle auf und formten mit den Stühlen eine nicht ganz geschlossenen Kreis. Ich stellte mich in den Focus und sagte: "Mein Vortrag neigt sich zu Ende. Jetzt ist wichtig, dass ihr seht, dass ich immer noch vorne bin. Ich wäre es auch, wenn der Kreis geschlossen wäre, weil ihr alle zu mir schaut. In einem richtigen Kreis ist die Position, an der ich stehe, nicht besetzt. Im Kreis gibt es kein vorne. Die Arena ist in diesem Sinne kein Kreis, sondern ein Zuschauerkreis, der weiss, was vorne ist. Lasst mich noch ein letztes Bild anfügen. Die Vortragsarchitektur ist polar, sie steht unter Spannung oder Gefälle. Ein Kreis hat kein Gefälle, keine Spannung, keinen Druck. In einem Vortrag wird Spannung abgebaut, im Vortrag verschwindet das anfänglich Gefälle. Im Kreis wird mit Potentialen gespielt, man könnte sagen, in einem Kreis wird Spannung aufgebaut. Das war, was ich euch vortragen wollte: ein anschauliches, kulturell verankertes Bild für eine Differenz, die uns im Dialog viele Probleme schaft, und die wir als Vortrag bezeichneten. Um meinen Vortrag ganz zu erfüllen, muss ich noch sagen, was ich von wem vorgetragen im Sinne von weitergetragen habe. Oder anders gesagt, woher das Gefälle stammt, das ich jetzt aufgehoben habe. Ich habe diese Anordnungen bei Vilém Flusser gelesen. Ich habe bei ihm unsere Problematik gut beschrieben gefunden. Gefallen hat mir, dass man die Architekturen einerseits in der Gruppe aufstellen und so körperlich erfahrbar machen kann und andrerseits, dass ich Institutionen wie Kino und Schule so durch eine Dialogarchitektur erkennen kann. Ich sehe, wo alle nach vorne schauen, auch dann, wenn sie wie in verkappt-modernen Schulklassen im Kreis sitzen. Ich schlage vor, dass wir uns jetzt in den Kreis setzen und den Diaog beginnen. Und natürlich bitte ich euch um Entschuldigung dafür, dass ich euch zuerst in die Gegenwelt transportiert habe."


 
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Wir schlossen den Kreis und ich stellte die Klangschale in die Mitte. Den Sprechstab behielt ich bei mir. Ich hatte schon während meines Vortrages gesehen, dass auch zwei Frauen und ein Mann da waren, die in unserer Dialoggruppe neu waren. Ich sagte: "Eigentlich wurden wir von Renate zu diesem Dialog eingeladen. Es ist in gewisser Weise ihr Dialog oder genauer ihre Dialogveranstaltung. Sie hat mich gebeten, sie zu vertreten, aber das ist natürlich nicht möglich, weil ich nicht weiss, wie sie heute über diese Veranstaltung denken würde. Eine Frage betrifft den Einstieg. Braucht es am Anfang eine kurze Einführung? Ich möchte mit dieser Frage so umgehen, dass wir sie zusammen, aber individuell entscheiden. Jeder von uns sagt einfach, was er Einführendes sagen will. So gibt es eine Einführung oder, wenn niemand etwas dazu sagt, eben keine." Ich legte der Stab in die Mitte und sagte: "Das ist der Sprechstab, wer ihn hat darf sprechen." Ich schlug leicht auf die Klangschale und wartete bis der Klang verklungen war, und sagte dann: "Das ist unsere Bremse. Wem unser Gespräch zu hektisch wird, kann jemand da drauf schlagen, dann müssen alle schweigen, bis der Ton verschwunden ist."

Elmar holte den Stab und sagte: "Ich will keine Einführung für die Neuen geben, ich will nur sagen, dass ich den Vortrag sehr eindrücklich gefunden habe, weil ich nicht nur etwas hörte, sondern irgendwie ganzheitlicher involviert war. Ich konnte die Differenz richtig körperlich fühlen. Mir ist so bewusst geworden, wie undialogisch unsere Gesellschaft organisiert ist. Und weil du von Kirche und von der Schule gesprochen hast, hat sich auch mein Bild vom letzten Mal verschoben, wo ich Religion und Wissenschaft unterschieden habe. Ich glaube jetzt, die Trennlinie läuft etwas anders, da die Institutionen der Religion und der Wissenschaft architektonisch beide auf den Vortrag orientiert sind. Ich glaube, meine Unterscheidung hat schon etwas sehr wichtiges getroffen, aber wir müssten das noch genauer herausarbeiten. Spotan habe ich jetzt gedacht, dass Institutionen generell nicht dialogisch funktionieren. Der Dialog wäre dann umgekehrt wohl aber auch in der Wissenschaft zu finden, sofern es eine nicht institutionalisierte Wissenschaft gibt."

Lisa sagte ohne den Stab zu holen: "Ja, der Vortrag war gut, aber es war ein Vortrag. Immerhin verstehe ich jetzt noch besser, was kein Dialog ist. Gute Vorträge helfen mir wenigstens so."

Christian, der zum ersten Mal dabei war, stand in der Mitte, wo er den Stab geholt hatte und sagte: "Vielleicht wäre ein kurze Einführung doch ziemlich gut. Ich verstehe nicht, worüber wir sprechen und welche Regeln, etwa mit diesem Stab, wann gelten." Er setzte sich mit dem Stab uns schien auf eine Antwort zu warten.


 
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Peter sagte: "Du musst den Stab in die Mitte legen, damit jemand anderer sprechen kann."

Lisa sagte: "Wie ihr gesehen habt, kann man auch ohne diesen Stab sprechen. Ich habe mir vorgenommen, nur dann zu sprechen, wenn ich den Stab haben könnte. Aber dazu muss ich den Stab nicht jedesmal holen und zurückbringen. Ich weiss auch, dass dieses Prozedere der Verlangsamung dient. Also habe ich mir vorgenommen, langsam zu sprechen. Ich hoffe, euch damit nicht zu verwirren. Ich will ein paar einführende Worte sagen, aber nicht zu den Neuen, sondern in die Mitte. Ich bin in dieser Dialogveranstaltung, um den Dialog zu üben. Ich habe letztes Mal realisiert, dass die Veranstaltung Regeln hat, die nicht den Dialog betreffen, sondern nur unsere Uebungen. Für mich waren diese Regeln wichtig, um mir auch klar zu machen, was ein Dialog nicht ist. Aber jetzt brauche ich diese Regeln nicht mehr. Und ich glaube, dass wir alle diese Regeln nicht mehr brauchen. Ich finde schön, das die Klangschale und auch der Sprechstab noch da stehen, ach, das sagte ich ja schon, es sind Erinnerungen. Ich glaube überdies, dass auch neue Leute in diesem Kreis keine Regeln mehr brauchen. Wenn wir uns dialogisch verhalten, werden sie sich auch dialogisch verhalten."

Christian hatte den Stab hingelegt. Und gleich wieder aufgenommen. Er sagte immer noch in der Mitte stehend: "Ich kann nicht beurteilen, ob ihr Regeln braucht, zumal ich mir noch nicht vorstellen kann, von welchen Regeln die Rede ist. Die Regel, die ich schon verstanden habe, betrifft diesen Stab, und auf diese Regel kann ich auch gut verzichten." Er legte den Stab wieder hin.


 
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Nach einer Weile sagte Peter: "Dann könnten wir jetzt ja auch nochmals über die Frage und über das Fragen nachdenken. Vielleicht können wir, wenn wir jetzt den Stab nicht mehr holen, auch wieder Fragen stellen. Es ging ja wohl um bestimmte Fragen, die im Dialog nicht gestellt werden dürfen, nicht um alle Fragen. Vielleicht sollten wir das nochmals etwas erörtern. Vielleicht kennt ja Rolf auch dazu ein kleines Architekturspiel?" Er sah mich an.

Ich musste mich konzentrieren, um das Gefühl los zu werden, Peter hätte mir eine Frage gestellt. Ich stellte mir dazu ein riesiges Buffett vor, eine Art Schlaraffenland, voller Angebote, die nicht auf meinem kleinen Teller liegen. Ich überlegte, was ich auswählen sollte. Ich merkte, dass das für mich eine gute Hilfe war. So konnte ich wahrnehmen, dass Peter in die Mitte sprach, unabhängig davon,wie er formuliert und was er dabei wahrgenommen hatte. In einer Dialogveranstaltung schien mir meine Interpretation sinnvoll, weil sie ja eine vereinbarte Regel unterstützte. Ich sagte also nichts, ich nahm mir aber vor, später darüber zu sprechen, falls ich es nicht einfach vergessen würde.

Hubert sagte: "Ich habe jetzt natürlich das Buch von Bohm auch gelesen und mich auch etwas im kleinen Buch von Buber umgesehen. Ich hatte aber nicht die Zeit oder die Priorität, mir alle diese Dinge zusammen zu denken. Wie der Ansatz von Buber hierher gehört, habe ich noch nicht erkannt, aber das Buch von Bohm hat mich schon aufgeklärt. Ich würde vorschlagen, dass wir allen Neuen empfehlen, das Buch zu lesen."

Lisa sagte sofort: "Ich mag nicht lesen, jedenfalls mag ich es nicht, wenn ich etwas lesen muss. Ihr könnt mir ja erzählen, was ich eurer Meinung nach unbedingt wissen müsste. Ich erzähle euch dafür, wie ich mir den Dialog vorstelle. Ich stelle mir vor, dass man gar nichts gelesen haben oder wissen muss, weil es hier nicht darum geht, kluge Vorträge zu halten, sondern darum, miteinander zu sprechen, miteinander. Ich habe daüber nachgedacht, inwiefern unsere Regeln diese Miteinander unterstützen ..."

Heidi, die wie Christian das erste Mal in dieser Dialogrunde war, sagte: "Es tut mir leid, wenn ich dich unterbreche, aber welche Regeln. Mich macht das konfus, wenn ihr immer von Regeln redet, und ich, wie Christian - das ist doch dein Name - nicht weiss, von welchen Regeln ihr sprecht.


 
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Lisa sagte sofort: "Ich will unbedingt zwei Sachen sagen. Erstens will ich eine Antwort geben. Wir haben am Anfang dieser Dialogtreffen einige Vereinbarungen getroffen, die wir dummerweise als Regeln bezeichnet haben. Du kannst davon ausgehen, dass du diesbezüglich rein gar nichts verpasst hast und von diesen Regeln überhaupt nichts wissen musst. Nur damit du, ich meine alle, die zum ersten Mal hier sind, verstehen kannst, worum es dabei gegangen ist, wiederhole ich zwei dieser vermeintlichen Regeln. Also erstens spreche ich nur in ich-Formulierungen und zweitens spreche ich immer in die Mitte des Kreises, also eben zu allen und nicht nur zu dir. Und drittens spricht man nur, wenn man den Sprachstab hat. Das sind die Regeln, die mich überhaupt nicht mehr interssieren." Sie machte eine Pause. Da niemand den Stab oder das Wort ergriff, fuhr sie fort: "Peter hat schon beliebig oft gesagt, dass diese Regeln jedes Gespräch verhindern. Ich glaube, der Sinn dieser Regeln ist es tatsächlich Gespräche zu verhindern, aber natürlich nicht das Gespräch, sodern nur bestimmte Gespräche, nämlich solche, die vernünftigerweise verhindert werden, etwa Diskussionen, die zu nichts führen und kein Ende finden .."

Peter rief dazwischen: "Ja, Bohm bezeichnet den Dialog als offenes Gespräch am Ende der Diskussionen .."

Lisa zeigte mit dem Finger auf Peter und fuhr weiter: "Ja, genau. Blöde Diskussionen. Die Regeln brauchen wir also nicht, wenn wir keine blöden Diskussionen führen." Sie schaute Heidi an und fragte: "Hilft Dir das? Hast Du jetzt verstaden, um welche Regeln es hier geht oder besser gesagt gegangen ist. Ich will noch eine zweite Sache sagen, etwas zum Dialog ohne Regeln." Sie wartete einen Augenblick und sagte dann: "Man kann Dialog von Diskussion unterscheiden. Elmar begreift den Dialog sogar explizit als Gegenteil einer Diskussion, als Antidiskussion. In Diskussionen wird immer darüber gestritten, wie es wirklich ist. Wenn man diesen blöden Streit vermeiden will, kan man ganz ohne Regeln einfach nicht darüber sprechen, wie es wirklich ist. Natürlich könnte man darin schon wieder eine Regel sehen, aber ich will etwas anderes vorschlagen. Die klassische oder kulturell entwickelte Möglichkeit nicht über die Wirklichkeit zu sprechen, sind Geschichten. Es gibt zwei Arten von Geschichten. Die einen Geschichten sind Märchen, sie erzählen, was nicht der Fall ist, und die andern Geschichten sind Utopien, die erzählen, was noch nicht der Fall ist. Ueber den Inhalt von Geschichten kann man nicht gut streiten. Man kann schlecht behaupten, dass Rotkäppchen nicht von Wolf gefressen wurde, oder. Wenn wir uns im Dialog beispielsweise mit unserer Zukunft in Form von utopischen Geschichten befassen, brauchen wir keine Regeln, die das Streiten verhindern, weil das dann schon durch die Gesprächsform gegeben ist."

Peter unterbrach sie wieder: "Utopien stehen am Anfang jedes Streites. Im Streit geht es dann einfach um die Umsetzungen oder darum, was überhaupt realisierbar wäre. Beispielsweise möchten alle Menschen den Kommunismus, wenn er ideal zu haben wäre. Aber die Umsetzung solcher Utopien führt immer zu Krieg, oder allermindestens zu heftigen Diskussionen."
 
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Lisa sagte: "Lieber Peter, weisst du, warum ausgerechnet wir die Regel mit dem Sprechstab so unbedingt brauchen?" Sie wartete. Peter winkte ab, er schien gemerkt zu haben, dass er sie unterbrochen hatte. Lisa sagte: "Du hast mich unterbrochen, aber das ist für mich ein kleines Problem. Aber Du hast gesagt, dass alle Menschen den Kommunismus möchten. Das heisst, ich bin in deinen Augen kein Mensch und das stört mich ziemlich. Weisst du, warum wir die Regel mit den ich-Formulierungen so unbedingt brauchen? Wenn wir kein Kindergarten wären, bräuchten wir solche Regeln überhaupt nicht."

Avital holte den Stab und sagte: "Lassen wir den Kindergarten doch den Kindern. Mich erinnert das, was Lisa über Utopien sagt, an eine eigene ganz private Geschichte. Als ich geheiratet habe, mein Mann ist ja ein Christ, hat die Pfarrerin in ihrer Predigt etwas sehr interessantes erzählt. Ich nehme an, sie wollte auf mein Jüdischsein bezug nehmen, sie sagte jedenfalls, dass die hebräische Formulierung unserer gemeinsamen Gebote offener sei, als die luteranische Uebersetzung. Im Hebräischen gibt es den Unterschied zwischen 'Du sollst' und ,Du wirst' nicht. Es gibt den Unterschied natürlich schon, aber er wird nicht wie im Deutschen durch zwei verschiedene Worte ausgedrückt. Die Pfarrerin sagte, deshalb könne man die Gesetze hebraisch als Verheissungen lesen. Zum gebieterische Ausdruck Gebot passe die Uebersetzung, du sollst dies tun und du sollst das nicht tun. Zur partnerschaftlichen Beziehungen einer Ehe passe aber besser, du wirst dies tun und du wirst das nicht tun. Ich kann ziemlich gut hebräisch, aber ich habe vor meiner Heirat nie gemerkt, dass man die Gebote so lesen könnte, weil ich sie davor eben immer als gebieterische Gebote verstanden habe." Sie machte eine Pause, ohne den Stab zurückzulegen. Peter hob seine Hand wie im Kindergarten. Avital sah ihn offensichtlich, sie fuhr aber selbst weiter: "Ich habe bis zu meiner Heirat nicht gesehen, was ganz leicht zu sehen gewesen wäre. Und jetzt, das ist noch schlimmer, habe ich grosse Mühe die Sache wie früher zu sehen, also so, wie es die meisten Leute zu sehen scheinen, wenn sie von den Geboten sprechen. Und in unserem Dialog habe ich jetzt, erst jetzt erkannt, dass Gebot ein anderes Wort für Regel ist. Ich habe in unseren langweiligen Diskussionen über die Dialogregeln wieder nicht gesehen, welcher Vorstellung wir damit aufgesessen sind, obwohl das ja immer wieder angesprochen wurde. Wir geben uns die Regeln selbst und es gibt niemanden, der sie durchsetzen kann. Wenn wir anstelle von Regeln von Verheissungen sprechen, dann sprechen wir von einer Utopie. Wir sagen dann, dass wir, wenn wir so weit sind, nur noch ich-Formulierungen verwenden werden, dass wir dann nur noch in die Mitte sprechen werden, und so weiter. Wir beschreiben damit nicht, was wir tun sollten oder müssten, sondern was wir uns idealerweise, also utopischerweise vorstellen." Sie legte den Stab in die Mitte und setzte sich, während sie sagte: "Ich will euch noch den Witz der Geschichte erzählen. Es ist in Wirklichkeit tatsächlich so, dass Moses zu einer Zeit lebte, als es die hebräische Sprache noch gar nicht gab. Die Gebote, also hebraisch ist von den zehn Worten, nicht von Geboten die Rede, waren also gar nicht hebräisch, sondern durch die Uebersetzung ins Hebräische ist verschwunden, ob die Formulierungen ursprünglich du sollst oder du wirst geheissen haben. Aber dass Moses gelebt hat, ist ja auch eine Geschichte und da wir sie nicht als Utopie erzählen, wird sie wohl ein Märchen sein."

Lisa sagte: "Jetzt müsste ich auf unsere Schale schlagen. Das war wieder zu viel für mich. Ich glaube, ich habe einiges verpasst, was mir wichtig wäre."

Avital sagte: "Es tut mir leid, dass ich so in Fahrt gekommen bin, aber ich glaube, ich habe jetzt den Dialog im Prinzip verstanden und auch, was die Pfarrerin an unserer Hochzeit sagen wollte. Jetzt machen mir diese Dialogregeln plötzlich ganz viel Sinn. Ich möchte jetzt alle Regeln kennenlernen, weil ich sie jetzt nicht mehr als Regeln begreifen muss. Renate hat doch schon mehrmals gesagt, dass es ganz viele Regeln gibt, und dass wir nur die einfachsten verwenden. Ich bin jetzt sehr gespannt".


 
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Elmar sagte: "Offenbar haben wir jetzt einen Ausgang aus diesem Regeldiskurs gefunden. Ich bin jedenfalls zuversichtlich ..."

Heinz unterbrach Elmar: "Ich glaube eher, dass wir damit noch einen Eingang gefunden haben. Jetzt können wir auch noch auf diese Weise über Regeln sprechen. Wir sind echt kreativ, wenn es darum geht, den Dialog zu vermeiden."

Elmar holte den Stab, den Aviatal zurückgelegt hatte und sagte: "Ok. Ich schlage eine neue Regel vor. Keine Dialogregel, aber eine Regel für unsere Veranstaltung. Ich schlage eine Superregel vor, die, wie Lisa sagte, alle anderen Regeln ersetzt. Wir sprechen in Geschichten und wir produzieren Utopien. Dabei können wir beobachten, ob wir dann tatsächlich mit den bisherigen Regeln übereinstimmen, ohne dass wir uns vornehmen, uns an diese Regeln zu halten."

Heidi holte den Stab und sagte: "Eigentlich brauche ich diesen Stab auch nicht. Ich bin auf unsere Utopien gespannt. Ich will euch von einer Utopie erzählen, die seit einiger Zeit viele Menschen bewegt." Sie schaute in den Kreis und sagte: "Ich habe jetzt einfach angenommen, dass wir den Vorschlag von Elmar einmal umsetzen und schauen, was dabei rauskommt."

Peter sagte: "Ja, ja, mach nur. Mir scheint das zwar so etwas wie ein Thema zu sein, aber ich bin schon einverstanden.

Heidi schaute wieder in den Kreis als ob sie noch weitere Zustimmung erwartete, dann sagte sie: "Ich nehme an, Ihr habt auch schon davon gehört, es geht um die Initiative Grundeinkommen." Sie wartete wieder. Dann fuhr sie weiter: "In meinen Augen ist das eine Utopie. Kennt ihr sie, oder muss ich etwas dazu sagen?" Es gab keine klaren Antworten, einige nickten, aber niemand sagte etwas. Heidi sagte: "Ich kann es ja kurz machen. Es geht darum, dass alle ein Grundeinkommen bekommen. Wer mehr Geld braucht oder will, kann wie bisher arbeiten, wer mit dem Grundeinkommen leben kann, kann eben tun, was er sinnvoll findet. Man kann das als eine Art Altersrente sehen, die einfach bei zwanzig anstatt erst bei zweiundsechzig beginnt. Der Staat spart dabei alle anderen Arten von Versicherungen, vor allem die Invaliden- und Witwenrente und die Arbeitslosengelder und die Sozialhilfe. Die Organisation der Verteilung ist auch schon vorhanden, nämlich eben die AHV, wobei diese enorm vereinfacht werden könnte, weil keine verschiedenen Fälle mehr unterschieden werden müssen. Es gibt verschiedene ökonomische Modelle, die zeigen, dass das finanziell möglich wäre. Es gibt auch verschiedene Modelle dazu, wie man die Sache umsetzen könnte. Wir könnten uns beispielsweise eigene Gedanken dazu machen. Es gibt auch viele interessante Fragen, etwa was die Leute tun würden, wenn sie plötzlich nicht mehr arbeiten müssten. Ich finde das eine spannende Geschichte."

Lisa lachte und sagte: "Dann kämen wohl alle in den Dialog."


 
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Peter sagte: "Das ist das allerbeste Beispiel, das du bringen kannst. Diese Initiative ist der reine Schwachsinn und zwar auf allen Ebenen. Erstens würde das öknomisch gar nie gehen, und zweitens wäre es verheerend für die Moral. Es wäre noch schlimmer als der reale Sozialismus. Ich ...

Lisa schlug auf die Klangschale. Peter verdrehte seine Augen und sagte: "Aha, doch wieder Regeln, nur um sicher zu stellen, dass kein Gespräch in gang kommen kann." Lisa hielt den Finger vor ihren Mund. Als sich der Klang der Schale verflüchtigt hatte, sagte sie: "Ich glaube, so habe ich das mit der Utopie nicht gemeint. Ich wollte keine Diskussion darüber, ob irgendetwas möglich ist. Das halte ich für eine Bewertung, nicht für eine Utopie. Ich würde mich gerne mit dem Inhalt dieser Initiative befassen. Ich habe noch nie davon gehört, das finde ich aber für unseren Dialog eher einen Vorteil. Es geht mir ja nicht darum, eine konkrete Initiative, die es schon gibt, zu verstehen, sondern darum, an einer Utopie weiterzuspinnen. Wir könnten uns überlegen, was wir gerne hätten."

Peter sagte: "Ja, natürlich können wir uns mit Utopien beschäftigen, die von vornherein nie realisierbar sind. Dann müssen wir uns auch nicht überlegen, wie man eine solche Utopie umsetzen könnte. Du hast ja auch von Märchen gesprochen. Wir können also erfinden, was wir wollen, auch Esel, die Gold scheissen."

Lisa sagte: "Ich würde es sehr interessant finden, wenn wir uns Gedanken darüber machen würden, was wir wollen und was wir gerne hätten. Ich möchte mich dabei gerade nicht dadurch einschränken lassen, dass ich nur wünschen darf, was auch realistisch ist. Mich interessiert, was wünschbar wäre. Ich glaube, dass wir uns in einem solchen Dialog nicht in die Haare geraten. Ich habe mir noch nie überlegt, was es heissen würde, wenn alle eine Rente bekommen würden. Ich weiss nicht einmal, was ich dann tun würde."

Elmar sagte: "Ich weiss nicht einmal, ob das wünschbar wäre ..."

Heidi sagte: "Die Umfragen haben ergeben, dass die meisten Menschen nach relativ kurzer Zeit ihre Arbeit wieder aufnehmen würden, einfach mit etwas weniger Stress und so."


 
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Elmar holte den Stab aus den Händen von Heidi und sagte: "Jetzt muss ich eben trotzdem nochmals von den Regeln, ich meine von den Verheissungen sprechen. Wir, also ich, ich spreche in der ich-Form und deshalb nicht darüber, was die Menschen tun. Und ich spreche ja auch nicht über Fakten, die aus irgendwelchen mir fremden Umfrage-Statistik-Quellen stammen. In bezug auf diese Utopie frage ich mich also, was ich tun würde." Dann blieb er aber still.

Lisa sagte: "Wir können auch darüber sprechen, wie wir uns unsere Gesellschaft utopisch vorstellen. Also ich stelle mir jetzt einmal nichts sehr Spektakuläres vor. Ich stelle mir vor, dass ich meine Altersrente einfach ab sofort bekomme. Wenn ich einmal davon absehe, wer das bezahlt, habe ich keine Probleme, weil das Verfahren mit Renten ja schon lange in Betrieb ist und offenbar probemlos funktioniert. Ich überlege mir also, was die Rentner so tun, äh ... nicht was sie wirklich machen, sondern welche Möglichkeiten sie für mich als Rentnerin vormachen." Sie schaute uns an und sagte: "Einige von uns müssen sich das ohnehin demnächst überlegen, diese vermeintliche Utopie kommt sowieso rasend schnell - wenigsten für einen Teil von uns."

Hubert sagte: "Ich muss mir das nicht demnächst überlegen, ich kriege seit einem guten Jahr die Altersrente. Was hat sich dadurch in meinem Leben verändert? Nun, ich habe einen Seniorenausweis, mit welchem ich allerhand Vergünstigungen bekomme. Das ist natürlich wunderbar. Ich nehme an, dass es diesen Ausweis nicht mehr geben würde, wenn alle Menschen eine Rente bekommen, ich weiss es nicht. Aber was hat sich sonst noch verändert? Ich weiss es nicht. Ich verdiene jetzt wegen der Rente einfach etwas mehr und muss deshalb etwas mehr Steuern bezahlen, so dass ein guter Teil der Rente gleich wieder verschwindet. Mir fällt nichts ein, tut mir leid. Für mich ist es ja auch keine Utopie."

Peter sagte: "Aber wenn wir diese Utopie realisieren würden, wäre es auch für dich sehr rasch eine Utopie im schlechten Sinne des Wortes. Nach kurzer Zeit würdest du deine Rente nämlich nicht mehr bekommen, weil kein Geld mehr da wäre. Aber ok, lassen wir das mal aussen vor. Ich glaube, Du würdest ziemlich viele Dinge, die dir jetzt ganz normal vorkommen, sehr bald schmerzhaft vermissen. Um nur einmal eine Sache zu nennen, was meint ihr, wer noch in der Kerichtabfuhr arbeiten würde, wenn er ohne diese Arbeit gleichviel Geld bekommen würde?"


 
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Elmar sagte: "Hör mal Peter, willst du nicht oder kannst du nicht. Verstehst du nicht, dass wir hier keine Diskussion führen wollen. Es geht jetzt nicht darum, was der Fall ist und auch nicht darum, was der Fall sein wird. Es geht uns um Utopien. Und eigentlich bin ich auch nicht wegen der Utopien hier, sondern wegen dem Dialog. Die Utopie fungiert hier nur als Alternative zu unserem Regelsystem. Wir wollen sehen, ob es Gespräche gibt, die unser Regelsystem quasi automatisch erfüllen. Ich wäre sehr froh, wenn du mitmachen würdest. Wenn du eine Aversion gegen diese Initiative hast, kannst du ja eine andere Utopie anziehen." Dann schaute Elmar die andern an und sagte: "Es tut mir leid, dass ich so gegen alle Regeln verstosse, aber Peter ..". Dann sagte er nichts mehr.

Ich sagte: "Ich habe mir auch gerade überlegt, wie wir Peter helfen könnten, mit seinen Emotionen umzugehen. Aber natürlich muss ich nur mir selbst helfen, mit meinen Emotionen umzugehen. Ich stelle mir also wieder vor, dass wir ein Buffett haben. Jemand bringt etwas mit, was ich überhaupt nicht mag. Er stellt es auf das Buffett, nicht in meinen Teller, wenn ich meinen Teller nicht gerade aufs Buffett gestellt habe. Ich kann alles, was ich nicht will, dort stehen lassen. Stehen lassen bedeutet aber in diesem Fall wirklich stehen lassen, also nicht wegräumen, nur weil ich meine, es passe nicht."

Elmar sagte: "Ja, das sehe ich auch so, nur gelingt es mir nicht immer."

Peter sagte: "Das ist gut, dann kann ich ja sagen, was ich will. Diese Grundeinkommensgeschichte ist meiner Meinung nach eben wirklich Unsinn."

Elmar sagte: "Ja, du kannst auf das Buffett stellen, was du willst. Ich überlege mir, was ich auf das Buffett stelle. Bei einer Grillparty bringe ich keine Pflastersteine. Aber unser Buffett ist ja grenzenlos gross."

Lisa sagte: "Vielleicht könnten wir jetzt wieder zum Dialog zurückkehren. Ich finde sehr interessant, dass Hubert gar keinen Unterschied feststellen konnte, als er Altersrente bekam. Das scheint mir eine sinnvolle Utopie, ich würde das jedenfalls gerne auch so erleben. Darin sehe ich das Gegenteil von dem oft zitierten Fall, dass viele Menschen kurz nach der Pensionierung daran sterben, dass ihr Leben für sie keinen Sinn mehr hat. Bitte versteht mich nicht falsch, ich will nicht über diese Menschen sprechen, ich kenne nämlich gar keinen solchen Fall. Ich will über das Problem sprechen, dass ich mich fragen muss, was ich denn machen würde, wenn ich ab heute eine Pension bekommen würde."


 
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Heidi sagte: "Ich bin in der Initiative engagiert, deshalb kann ich nicht einfach still sein. Ich will hier auch gar nicht darüber streiten, was möglich ist und was nicht, dass wissen offenbar auch die Oekonomen nicht recht. Ich will nur sagen, dass die Initiative, oder jetzt sage ich die Utopie, vorsieht, dass niemand etwas an seinem Leben ändern muss. Es ist gerade nicht wie bei der Pensionierung, die es dann logischerweise nicht mehr geben wird, es ist umgekehrt. Bei der Pensonierung verändert sich das Leben plötzlich radikal. Das ist ein grosses Problem. Wenn ich aber eines Tages plötzlich die Grundrente bekomme, ändert sich wie bei Hubert rein gar nichts. Es sei denn, ich will es. Dann kann ich auch selbst einteilen, wann ich wieviel Veränderung will. Wenn ich beispielsweise überraschenderweise ab heute diese Rente bekommen würde, würde ich morgen genau so zur Arbeit gehen, wie ich es morgen ohnehin tue. Ich würde aber anfangen, über mein Leben neu nachzudenken. Und das könnten wir doch hier zusammen tun."

Heinz sagte: "Ich finde das eine gute Idee. Ich finde aber auch sehr interessant, wie man so eine Utopie realisieren könnte. Ich verstehe nicht, warum ihr darüber nicht auch einen Dialog führen wollt. Wir können doch gut beides tun."

Dann blieb es ziemlich lange still. Schliesslich sagte Christian: "Ich finde diese Dialogveranstaltung ziemlich speziell. Ich verstehe einfach nicht recht, was hier läuft. Zuerst habe ich über mir nicht bekannte Regeln nachgedacht, dann habe ich gehört, dass diese Regeln jetzt gar nicht mehr wichtig sind, und jetzt komme ich mir vor wie in einem Kreativitätstraining, wo ich einfach mal so eine Utopie erfinden soll. Ich muss zugeben, dass mir einfach nichts einfällt. Ich könnte ohne weiteres über diese Initiative diskutieren, ich glaube problemlos stundenlang, obwohl ich heute das erste Mal von dieser Initiative gehört habe. Ich merke, dass ich eigentlich über fast alles diskutieren kann. Aber hier wird ja nicht diskutiert, wir sind ja offenbar in einer Antidiskussion. Nur weiss ich nicht, wie das geht. Ich finde das wirklich sehr speziell. Und Peter hat doch mindestns in einem Punkt recht. Hier wird jedes Gespräch immer und sofort unterbrochen, weil wir immer sofort an irgendwelche Regeln denken, von welchen wir dann noch sagen, dass wir sie gar nicht brauchen."

Lisa sagte: "Ja. Mir fällt jetzt auch auf, dass es mir recht schwerfällt, jetzt einfach etwas zu diesem Thema zu sagen, aber nicht, weil es ein Thema ist, und ich gerade an etwas anderes denke. Mich interessiert jetzt dieses Thema, aber trotzdem kann ich spontan nichts sagen, ausser dass ich wie Christian natürlich über diese Initiative diskutieren könnte. Ist das nicht total verückt. Ich könnte ganz viel darüber sagen, wie die Wirklichkeit ist, also darüber, warum diese Initiative realisierbar wäre oder warum nicht. Dabei habe ich eigentlich gar keine Ahnung von Oekonomie. Also über das, wovon ich keine Ahnung habe, könnte ich ganz viel sagen, aber über das, wovon ich wirklich etwas verstehe, nämlich darüber, was ich mir wünsche oder wünschen würde, wenn diese Initiative angenommen wird, fällt mir jetzt nichts ein. Ich glaube, ich werde hier noch wahnsinnig, so verkehrt ist alles."


 
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Christian holt den Stab. Lisa fragte Heidi: "Du gibt es diese Initiative wirklich? Werden Unterschriften gesammelt? Oder hast Du jetzt nur ein Utopie erfunden?"

Christian blieb mit seinem Stab stehen. Heidi sagte: "Christian, darf ich, nur ganz schnell? Diese Initiative gibt es wirklich. In vielen Ländern in Europa. Es ist aber keine Intiative, für die schon Unterschriften gesammelt werden. Es ist ... ich sage nachher etwas, jetzt ist ja Christian dran". Christian sagte: "Ich wollte sagen, dass ich das verkehrte nicht sehe, von welchem Lisa gesprochen hat. Ich wollte sagen, was ich tun würde, wenn ich ab sofort eine Grundrente bekommen würde. Für mich ist das kein Problem. Mein Problem ist viel mehr, dass das nur eine Utopie ist .."

Heidi rief: "Warte ab, nicht mehr lange!"

Christian fuhr fort: "Natürlich ist das von der Höhe der Rente anhängig. Aber wenn ich einmal von einer existenzsichernden Rente ausgehe, also wenn ich annehme, dass ich ab sofort die jetzt aktuelle Altersrente bekommen würde, würde ich mein Arbeitspensum reduzieren. Vielleicht auf achtzig Prozent, am liebsten in Form von einigen Wochen Urlaub. Ich hätte noch ein paar Reisen, die ich gerne machen würde und für die ich mir auch gerne mehr Zeit nehmen würde. Warum erzähle ich das? Nun, ich glaube, das ist weder kreativ noch irgendwie speziell. Ich verstehe nicht, warum nicht alle, die hier sind, ohne weiteres so etwas sagen könnten. Wer wünscht sich nicht etwas mehr Ferien? Aber vielleicht darf man im Dialog nicht über so einfache Dinge sprechen? Oder vielleicht ist der Dialog nicht für Menschen gedacht, die so einfache Vorstellungen haben?"

Heidi sagte: "Ich glaube, das hat nichts mit dem Dialog zu tun, sondern etwas mit der Initiative. Ich glaube, dass die Initiative einfach nicht so gemeint ist, dass es doch schön wäre, wenn alle etwas mehr Urlaub hätten. Es geht nicht darum, dass wir die Arbeitzszeit reduzieren wollen. Es geht um unsere sozialen Verhältnisse. Es geht .."

Peter rief: "Es geht darum und Du sagst uns genau worum." Ich sagte: "Heidi, vielleicht könntest Du ja etwas ich-bezogener formulieren. Oder meinst Du, diese Initiative würde sich mit dem Dialog nicht vertragen?" Und Lisa schlug einmal mehr auf den Gong.

Nachdem der Gong verklungen war, sagte Heidi: "Entschuldigung. Ich wollte nicht sagen, worum es in dieser Initiative geht. Ich wollte sagen, wie ich die Intiative verstehe. Unser Problem war ja, dass uns spotan nicht einfällt, was wir angesichts einer Grundrente gerne machen, also wie wir gerne leben würden. Ich glaube auch, dass ganz viele Menschen etwas weniger arbeiten würden. Aber man merkt doch .. Ich meine, ich merke, dass es bei dieser Initiative nicht darum geht. Also ich will es zuerst einmal ganz undialogisch sagen und nachher über ich-Formulerungen nachdenken. Man merkt doch einfach, dass es um mehr geht und deshalb spricht man nicht über die eigenen Ferienwünsche. Im Dialog schon gar nicht. Es geht um Freiheit, nicht um Freizeit." Dann wartete sie etwas und sagte: "Jetzt könntet Ihr mir dabei helfen, das dialogisch zu formulieren, dabei würden wir auch viel über den Dialog lernen."


 
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Es blieb ruhig, alle schienen darüber nachzudenken. Dann sagte Elmar: "Ich habe jetzt gerade viel über den Dialog gelernt, wenn das Lernen ist. Ich merke nämlich, dass ich dieser Idee, dass man etwas dialogisch formulieren könne, auch oft nachhänge. Und jetzt ist mir das bewusster geworden, weil Du uns dazu aufgefordert hast. Ich glaube aber, diese Idee ist ziemlich falsch. Gemäss dieser Idee kann man im Dialog alles sagen, man muss es einfach dialogisch formulieren. Ich glaube aber, es ist eigentlich umgekehrt. Es geht im Dialog mehr darum, was man sagen kann, als darum, wie man es sagen muss. Der Dialog ist ja nicht einfach eine Diskussion, in welcher man schöner formuliert. Diese Idee des richtigen oder dialogischen Formulierens wird durch unsere Regeln, die eigentlich Formulierungsregeln sind, hervorgerufen. Unsere Regeln betonen ja, wie man sprechen muss. Das ist das Problem der Regeln. Es geht im Dialog nicht um das wie, sondern um das was."

Heidi sagte: "Ja, Du hast recht. Mir ist es jetzt gerade mehr um die Initiative gegangen als um den Dialog. Das ist aber auch eine schwierige Sache. Wenn ich in einem Thema engagiert bin ... Das ist wirklich schwierig, dann einfach im Dialog zu bleiben und nicht zu diskutieren, wenn jemand etwas gegen die Sache sagt."

Hubert sagte: "Ja, das ist das Problem. Aber genau darum geht es in gewisser Weise. Ich habe gelesen, dass die Konversationssalons in Frankreich in der Aufklärugszeit eine sehr strenge Ettikette darüber hatten, wie man sprechen muss. Der Grund dafür war aber genau, dass man so nicht einfach sagen konnte, was man wollte. Das habe ich auch in unseren Dialogregeln so wiedererkannt. Es geht nicht um Formulierungen, sondern wie Elmar sagte, darum, worüber man spricht. Die Regel mit der ich-Formulierung ist in diesem Sinne eben viel zu oberflächlich. Es geht nicht um Formulierungen, sondern darum, dass ich über mich spreche. In den Salons und wohl auch im Dialog geht es darum, dass nicht das Thema bestimmt, was ich sage, sondern ich bestimme, was zu einem Thema gesagt werden kann. Darin sehe ich einen entscheidenden Unterschied."

Heidi sagte: "Also das war mir zu kompliziert. Ich weiss, wirklich dialogisch wäre, wenn ich Dir keine Frage stellen würde. Ich müsste dann eine andere Formulierung suchen, um Dich trotzdem zu fragen. Jetzt aber frage ich Dich ganz direkt, wie Du das mit dem Thema gemeint hast. Wann bestimmt das Thema was ich sage?"

Hubert sagte: "Jetzt gerade! Jetzt willst Du etwas unbedingt wissen oder verstehen und Du kümmerst Dich deshalb nicht um unseren Dialog, der Dir solche Fragen verbieten würde. Das Thema ist Dir wichtiger als der Dialog. Und hier sollte es eben genau umgekehrt sein."

Peter sagte: "Jetzt ist es auf dem Tisch. Das sage ich ja die ganze Zeit schon. Der Dialog, also die Regeln verhindern jedes thematische Gespräch."


 
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Hubert sagte: "Es könnte auch sein, was Lisa schon sagte, nämlich nicht jedes Gespräch wird verhindert, sondern nur bestimmte Gespräche. Und das ist doch definitiv der Sinn des Dialoges, nämlich dass wir nicht in blöde Diskussionen verfallen."

Ich sagte: "Vielleicht ist es gar nicht der Dialog, der Gespräche oder bestimmte Gespräche verhindert, vielleicht sind wir es, die das tun. Ich will nochmals zusammenfassen, welche möglichen Gespräche ich heute nicht wahrgenommen habe, weil immer ein anderes Gespräch gerade wichtiger schien. Wir hätten über den Unterschied zwischen Vorträgen und Dialogen sprechen können, oder darüber, warum in Organisationen keine Dialoge möglich scheinen, oder endlich einma über die Frage der Fragen, oder über Utopien und Verheissungen, die unsere Regeln unwichtig machen, oder über die Grundeinkommensinitiative, oder darüber, wie wir am liebsten leben würden. Man könnte also meinen, dass alle diese Gespräche, die nur angezogen, aber nicht geführt wurden - dass diese Gespräche verhindert wurden. Man kann, und ich tue es, das aber auch ganz anders sehen. Wir sind hier im Dialog und sprechen deshalb vor allem über den Dialog. Wir haben einfach ein Thema, das uns nicht loslässt, noch nicht loslässt, das uns noch gefangen nimmt. Mir leuchtet ein, was Hubert über Konversationssalon gesagt hat, und auch, dass es im Dialog um das Gleiche gehen könnte. Aber ich erlebe, dass wir hier von einem Thema beherrscht werden. Ich finde das aber ziemlich normal, weil wir ja dazu hierherkommen. Wenn mich das Grundeinkommen interessieren würde, würde ich ja eine andere Veranstaltung besuchen. Ich will die Verheissung, von welcher hier die Rede war, etwas pointieren. Zuerst wie Moses, quasi als elftes Gebot: Du sollst nur Dialoge führen. Und dann wie Avital, als Verheissung anstelle eines Gebotes: Du wirst Dich nur in Dialogen unterhalten, wenn Du Deine Bestimmung als Mensch erkannt haben wirst."

Ich stand auf und sagte: "Weil wir hier so von einem Thema beherrscht werden, gehen wir nach dem Dialog immer zu einem Bier, wo alle Theme in jeder Form erlaubt oder sogar erwünscht sind."

Peter, der auch aufgestanden war, sagte: "Ich habe mir vorgenommen, nächstes Mal einen Vortrag zu halten. Ich schlage vor, dass ich nächstes Mal am Anfang etwa zehn oder fünfzehn Minuten spreche." Er schaute Lisa an und sagte: "Wir können ja vereinbaren, dass die, die keinen Vortrag hören wollen, einfach etwas später kommen, sagen wir halb sieben. Vielleicht bin ich dann eine Viertelstunde allein hier, aber vielleicht hilft es wenigstens den Neuen als Einstieg. Ich würde über das Buch von Bohm sprechen. Ich lese es jetzt natürlich auch mit etwas anderen Augen, aber ich finde immer noch sehr grosse Differenzen zu unserem Dialog. Ist das ok so, oder seid ihr wieder dagegen?"

Da niemand eine Antwort gab, sagte ich: "Das scheint ok zu sein. Dann lasst uns jetzt zu einem Bier gehen. Auch als Vertreter von Renate danke ich euch für das Mitmachen in der Veranstaltung und ich danke euch für den Dialog."


 
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Wahrheit und Konflikt

Ich hatte in meinem Einladungsmail den Kurzvortrag von Peter angekündigt und auch die Option erwähnt, erst später zur Dialoggruppe zu kommen. Alle Teilnehmenden, auch wieder zwei Neue, kamen zur üblichen Zeit. Renate war wieder dabei. Sie sagte mir, dass ich doch den Dialog eröffnen solle, weil ich wisse, was letztes Mal gelaufen war. Ich sagte, dass ich versuche, jeden Dialog neu zu sehen, so, als ob ich das erste Mal dabei wäre. Ich würde vorschlagen, das wir Peter einfach machen liessen. Die Stühle habe ich zusammen mit Renate in einen Kreis gestellt, noch bevor Peter gekommen war. Peter schien sich nicht dafür zu interessieren, er setzte sich auf einen der Stühle und kramte aus einer Mappe, die er dabei hatte, einige Papiere hervor. Ich dachte, das könnte eine lange Rede werden. Dann dachte ich, dass ich eigentlich positiv denken wollte, und stellte mir ein kurze Rede vor.

Etwas nach 18.15 Uhr schloss Peter die Türe und setzt sich wieder. Die Gespräche verstummten allmählich, dann blieb es still. Nach einer Weile sagte Peter: "Will denn heute niemand den Dialog eröffnen?"

Ich sagte: "In meinen Augen sind wir schon mitten drin im Dialog."

Peter sagte: "Wenn das so ist, dann werde ich jetzt mal meine Sicht auf den Dialog von Bohm vorstellen. Ich glaube, das ist nicht nur für Neue in diesem Kreis interessant." Er machte eine Pause und schien auf eine Bestätigung seines Anliegens zu warten oder allenfalls auch auf Widerspruch. Aber niemand sagte etwas. Dann fuhr er weiter: "Also, wenn es keinen Widerspruch gibt, fange ich jetzt an. Ich will noch sagen, dass ihr mich jederzeit unterbrechen könnt, wenn ihr etwas nicht versteht, und ihr könnt natürlich auch Fragen stellen, weil es jetzt ja um den Dialog nach Bohm geht, nicht um den Dialog, den wir hier sonst pflegen." Er schaute auf seine Unterlagen und sagte: "Ich habe mir die wichtigsten Punkte rausgeschrieben. Ich fange mit dem für mich jedenfalls wichtigsten Punkt an. Soweit ich Bohm verstanden habe, geht es im Dialog weder um Regeln noch um Verheissungen. Gemäss Bohm geht es im Dialog darum, die Wahrheit zu finden. Wenn man die Wahrheit finden will, darf man sie natürlich nicht bereits schon besitzen, und man darf eben auch nicht sicher sein, dass man bereits auf dem richtigen Weg zur Wahrheit ist. Das Problem, das Bohm mit seinem Dialog lösen will, und er spricht auch wirklich von einer Problemlösung, besteht darin, dass viele Menschen die Wahrheit nicht finden können, weil sie glauben, die Wahrheit schon gefunden zu haben. In Wirklichkeit haben sie aber ein Theorie, nicht die Wahrheit. Als Beispiel nennt Bohm die beiden Physiker Bohr und Einstein, die nie einen Dialog miteinander führen konnten, weil beide meinten, ihre Theorien seien wahr. Sie identifizierten sich mit ihren Theorien so, dass sie alles, was gegen diese Theorien gesagt wurde, als Angriffe auf ihre Person erlebten. Nur nebenbei, das ist kein nur persönliches Problem. Ich habe gelesen, dass sich das Judentum so sehr mit der Theorie von Einstein identifiziert, dass Angriffe auf die Relativitätstheorie als antisemitisch empfunden werden."

Avital sagte: "Wo hast du denn diesen Unsinn gelesen. Merkst du, dass genau das eine antisemitische Verunglimpfung ist?"


 
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Peter sagte: "So habe ich es überhaupt nicht gemeint, ich wollte nur sagen, dass man sich nicht nur persönlich, sondern auch als Volk oder als Kultur mit etwas identifizieren kann. Das war wohl ein blödes Beispiel, es ist mir einfach wegen Einstein gerade in den Sinn gekommen. Ich kann dir die Quelle schon geben, wenn du willst. Aber es geht nicht um das Beispiel, sondern um den interkulturellen Dialog, der heute von allgrösster Bedeutung ist." Er schaute wieder auf sein Papier und sagte wieder mehr zu allen: "Bei Bohm geht es darum, diese Identifikationen mit vermeintlichem Wissen aufzubrechen, oder wie er sagt, in der Schwebe zu halten, so dass die Wahrheit eine Chance bekommt. Wie gesagt, von unserem Setting mit diesen etwas eigenartigen Regeln schreibt er nichts, er schreibt viel allgemeiner von einem Containement, in welchem Dialoge stattfinden sollen. Dieser Container ist als eine Art Schutzraum gedacht, in welchem man nicht jedes Wort auf die Goldwaage legen muss. Bohm sagt, dass schon bei relativ zufällig ausgewählten zwanzig bis vierzig Personen - so viele waren wir ja leider noch nie - eine Art Mikrokosmos zusammenkommt, der alle Positionen der jeweiligen Kultur repräsentiert. Im Dialog können deshalb alle gesellschaftlichen Probleme so diskutiert werden, wie es die Gesellschaft als Ganzes tut, weil im Mikrokosmos eben auch alle Strömungen vertreten sind."

Lisa hielt die Hand hoch und fragte dann: "Peter, könntest Du jetzt zu Sache kommen und uns sagen, wie wir einen Dialog nach Bohn zu führen hätten. Wie würde das gehen? Was wäre anders als bei unserem Verfahren?"

Peter sagte: "Ja, ich will nur noch einen Punkt hervorheben, der mir wichtig erscheint. Ihr wisst ja, das Bohm ein grosser Physiker war, bevor er sich mit dieser Dialogphilosophie zu beschäftigen begann. Und das kann man in seinem Buch noch sehr genau erkennen. Wenn man etwas genau liest, wird man sehen, dass er sehr naturwissenschaftlich argumentiert, ich betone beides, naturwissenschaftlich und das Argumentieren. Er ist kein Konstruktivist, sondern er ist der Wahrheit verpflichtet. Und diese Wahrheit kann nicht im Widerspruch zur Naturwissenschaft stehen. Er argumentiert deshalb auch mit der Funktionsweise des Gehirns und des Denkens. Er zeigt, dass das Denken einen eingebauten Fehler hat, der darin besteht, dass das Denken sein eigenes Tätigsein versteckt. Für mich ist das eine zentrale Erkenntnis. Bohm spricht von einer fehlenden Reafferenz oder Propriozeption. Reafferenz bedeutet, dass wir merken, wenn wir unseren Arm bewegen, aber wir merken nicht, wenn wir denken. Die Funktion des Dialoges besteht deshalb darin, uns klar zu machen, dass und wie wir denken."

Lisa sagte: "Wunderbar, und jetzt sagst du uns noch, wie das geht, oder?"

Peter sagte: "Also konkrete Anweisungen habe ich im Buch nicht gefunden. Es scheint vielmehr so zu sein, dass der Dialog ein sich selbst organisierender Prozess darstellt, den man sich entwickeln lassen muss. Dazu sollten sich Menschen wie wir treffen, möglichst viele, Bohm spricht von idealerweise bis fünfzig Personen. Man hat am Anfang kein Thema und keine Traktanden, dafür aber Musse. Bohm sagt, dass am Anfang oft etwas um den Brei herum gesprochen werde, weil wir Dialoge einfach nicht gewohnt seien. Aber nach einer gewissen Zeit würden sich vor allem anhand von Missverständnissen Gespräche entwickeln, in welchen unsere Grundannahmen sichtbar würden."


 
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Elmar sagte: "Ich bin jetzt in einer etwas schwierigen Lage, weil ich nicht recht weiss, wie die Veranstaltung laufen soll. Ich sage es mal so, dieser Vortrag provoziert in mir eine Reihe von Widersprüchen, die vielleicht auf Missverständnissen beruhen. Wenn ich jetzt an einem Vortrag wäre, würde ich anfangen zu argumentieren. Da ich aber mit der Vorstellung hier bin in einem Dialog zu sein, stelle ich das Gehörte auf unser berühmtes Buffett. Ich untersuche, was genau an diesem Vortrag mich zum Widersprechen reitzt."

Peter sagte: "Ja, das ist genau der Punkt, auf den Bohm hinaus will. Du hast etwas gehört, was dir nicht recht passt, weil es nicht zu deinen Vorannahmen passt. Wenn du jetzt reklamierst, wird zuerst sichtbar, dass du von anderen Annahmen ausgehst. Es ist dann unsere Aufgabe, deine Annahmen aufzudecken, Bohm spricht davon, den Beobachter zu beobachten. Du bist der Beobachter, der mich beobachtet hat, und jetzt beobachten wir den Beobachter. Du müsstest jetzt also sagen, was von dem, was ich sagte, nicht zu deinen Voraussetzungen passt. Aber an diesen Punkt kann unser Dialog gar nie kommen, weil wir uns mit unseren Regeln ja gar nicht widersprechen können. Es gibt einen fundamentalen Unterschied zwischen dem Bohmschen Dialog und unserem."

Renate sagte: "Mir geht es ein wenig wie Elmar. Ich verstehe auch nicht recht, wo wir hinzielen. Ich könnte Peters Vortrag auch ohne weiteres kritisieren, aber damit würde ich mich ja auf das Niveau von Peter begeben, ich müsste dann sagen, was wahr ist und wie es wirklich ist und was David Bohm wirklich geschrieben hat und so weiter. Ich weiss nicht, was ihr letztes Mal abgemacht habt, ich habe nur im mail gelesen, dass es einen kurzen Vortrag gibt. Für mich wäre am besten, wenn wir nach dem Vortrag eine kleine Pause einlegen und danach einen Dialog anfangen würden."

Einer der neuen Teilnehmern sagte: "Ich heisse René, ich bin das erste Mal hier. Ich hätte auch ein paar Fragen zu diesem interessanten Vortrag. Er ist ja sicher noch nicht fertig, oder? Ich verstehe aber vor allem nicht, wie ihr jetzt auf den Vortrag reagiert. Findet ihr es nicht normal, dass man zu einem Vortrag Fragen stellt, vielleicht auch kritische?"

Renate war schneller als Peter, sie sagte: "Doch zu einem Vortrag gehören schon Fragen, aber wir wollen hier ja einen Dialog machen. Das ist etwas anderes als Vorträge. Aber vielleicht habt ihr ja für heute etwas anderes abgemacht."


 
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Ich sagte: "Ich weiss nichts von einer Abmachung. Es ist alles wie immer. Ich habe letztes Mal einen Vortrag gehalten. Dann hat Peter gesagt, dass er heute auch einen Vortrag halten werde. Das habe ich in der Einladung angekündigt. Ich selbst habe den Vortrag von Peter als Beitrag zum Dialog gehört, weil ich nicht für einen Vortrag, sondern für einen Dialog gekommen bin. Ich habe gemerkt, dass ich selbst entscheide, ob ich einen Vortrag oder einen Dialogbeitrag höre, selbst dann, wenn Peter sagt, dass er einen Vortrag macht. Mir hat dieser vermeintliche Vortrag, der übrigens im Kreis vorgetragen wurde, sehr geholfen zu verstehen, dass ich als Zuhörer selbst bestimme, was ich wie höre. Ich habe alles, was ich gehört habe, auf unser Schwebebuffett gestellt."

Lisa sagte: "Mir geht es völlig gleich. Auch für mich war das eine gute Uebung. Ich habe mir immer überlegt, unter welchen Bedingungen ich auch so sprechen würde. Ich habe einfach versucht zuzuhören, zu hören, was ein anderer Mensch sich vorstellen kann. Ich will euch gerne sagen, was das bei mir bewirkt hat. Ich dachte immer wieder, dass Peter offenbar ein anderes Buch von David Bohm gelesen hat als ich. Ich stelle mir aber jetzt vor, dass in seinem Buch alle Buchstaben in der gleichen Reihenfolge stehen wie in meinem, und dann ist es sehr erstaunlich, wie es möglich ist, dass wir so verschieden lesen. Aber vielleicht habe ich Peter ganz falsch verstanden .."

Peter unterbrach sie: "Ich dachte, du würdest gar keine Bücher lesen."

Lisa sagte: "Es sieht jetzt jedenfalls wieder ganz so aus. Jetzt habe ich es wieder einmal versucht, aber ich habe so etwas anderes gelesen als du, dass ich jetzt wieder ganz unsicher bin, ob ich gelesen oder einfach fantasiert habe. Aber das ist ja der Grund, warum ich den Dialog suche. Bücher reagieren überhaupt nicht, wenn ich sie total falsch verstehe, oder noch genauer gesagt, ich kann Bücher nicht verstehen oder nicht verstehen, weil sie mir darüber keine Rückmeldung geben. Hier im Dialog kann ich aber hören, dass es ganz verschiedene Vorstellungen gibt. Wenn ich überhaupt zuhören kann. Während deines Vortrages ist mir das teilweise sehr schwer gefallen. Immer wieder ertappte ich mich dabei zu denken, dass du das Buch nicht verstanden hast. Dann musste ich mir jedesmal eine Ruck geben, um zu sehen, dass du das Buch auf deine Weise verstanden hast, und dass das mir nur zeigt, wie verschieden das Buch gelesen und verstanden werden kann."

Rene sagte ziemlich energisch: "Vielleicht kann mich jemand darüber aufklären, was hier läuft. Was wäre eurer Meinung nach das richtige Verhalten nach einem Vortrag? Was sollten wir tun, wenn nicht Fragen stellen oder Kritiken anbringen?"


 
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Elmar sagte: "Ich habe einen ganz undialogischen Vorschlag, der mir aber jetzt gerade zu passen scheint. Peter soll Rene und uns auch noch über unseren Dialog aufklären. Nachdem er das Buch doch ziemlich anders verstanden hat als einige von uns, ist es ja möglich, dass er auch unseren Dialog ziemlich anders versteht. Wir könnten so vielleicht auch eine neue Sicht auf unseren Dialog gewinnen und darauf, wie er sich vom Bohmschen Dialog unterscheidet."

Peter sagte sofort: "Das mache ich gerne. Wir könnten dann auch gleich diskutieren, inwiefern ihr das Buch so anders verstanden habt als ich. Vielleicht können wir so überhaupt zu klareren Vorstellungen über den Dialog kommen." Er schaute wieder abwartend in den Kreis.

Renate sagte: "Ich will einfach noch sagen, dass ich die Veranstaltung überhaupt nicht mehr wiedererkennen kann. Letztes Mal war wohl eine Revolution im Gange, in welcher alles, wirklich alles umgekrempelt wurde. Mir fällt auf, dass ihr nicht einmal mehr den Sprechstab verwendet, von allem anderen ganz zu schweigen."

Lisa sagte: "Diese Revolution findet heute statt, letztes Mal war alles noch ganz normal."

Heinz sagte: "Ich bin noch nicht oft da gewesen, aber ich finde, es war jedes Mal eine Revolution. Das Normale habe ich noch nie gesehen. Ich staune jedes Mal von Neuem. Aber vielleicht lernen wir so mit komplexen Verhältnissen umzugehen. Ich würde den Vorschlag von Elmar unterstützen. Da wir jetzt ohnehin keinen Dialog machen, könnte doch Peter auch noch einen Vortrag über uns machen. Das hilft uns dann vielleicht wirklich besser zu verstehen, was wir hier tun."

Peter sagte: "Also, ich mache es kurz." Er schaute Rene an und sagte: "Ich habe vorher erzählt, was im Buch von Bohm über den Dialog steht. Natürlich, wie Du gesagt hast, sehr kurz. Jetzt sage ich auch kurz, was ich bisher hier in unserem Dialog verstanden habe. Hier geht es darum, ein Gespräch nach bestimmten Regeln zu führen. Bis heute hatten wir einen Sprechstab und durften nur in ich-Sätzen sprechen. Ich glaube, diese Regeln würden jetzt immer noch gelten, aber wir haben den Dialog heute eben noch nicht angefangen, weil ich einen kurzen Vortrag hielt. Aber dass mein Vortrag ein Vortrag ist, stimmt ja jetzt auch schon wieder nicht mehr. Die einschneidenste Regel hier lautet oder hat die Konsequenz, dass man keine Fragen stellen darf, wenigstens nicht an eine bestimmte Person. Deshalb kann man jetzt auch keine Fragen an mich richten, wenn man meinen Vortrag als Teil des Dialoges sieht, der hier üblicherweise stattfindet. Ich habe schon mehrfach gesagt, dass ich den Zusammenhang zwischen unserem Dialog und jenem von Bohm nicht erkennen kann. Aber egal. Letztes Mal haben wir gehört, dass die Regeln unwichtig sind, oder vielmehr, dass sie wichtig sind, aber keine Regeln, sondern Verheissungen. Das habe ich so verstanden, dass wir die Regeln nicht strikt anwenden, sondern eher tendentiell, dass die Regeln also eine Art Fernziel beschreiben. Man könnte jetzt also doch Fragen an mich richten, wenn man diese Regelabweichung verantworten kann." Er machte ein kurze Pause und sagte dann: "Ah, da ist noch eine weitreichende Regel. Der Dialog hat kein Thema. Man kann also immer über alles sprechen. Als nächstes kann jemand etwas über Fussball und der nächste etwas über die Galapaposinseln sagen. Ich, nur um ein Beispiel zu nennen, wollte schon mehrmals über das Problem mit den Fragen sprechen, aber weil das ein Thema wäre, habe ich nie Antworten dazu bekommen." Mit einer abwinkenden Handbewegung fügte er an: "Ja, das war jetzt natürlich etwas knapp und ein bisschen pointiert. Aber wohl schon ziemlich treffend, oder?"


 
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Renate sagte ziemlich laut: "Ich weiss wirklich nicht, wo wir stehen, ich verstehe überhaupt nicht, was hier läuft. Das hat doch überhaupt keinen Sinn. Peter, ich weiss nicht, warum du immer zu unseren Dialogen kommst, wenn es dir so völlig unverständlich ist, was wir hier warum tun. Bist du einfach hier, um uns zu stören?"

Dann war es auf eine laute Art still, bis Peter endlich antwortete: "Ich bin hier, weil du mich zu einem Dialog eingeladen hast. Das tut dir jetzt offenbar leid, aber du kannst mich ja wieder ausladen, falls du das jetzt nicht schon getan hast. Ich merke selber auch, dass ich hier oft eine eigene Meinung vertrete und dass das manchmal oder meistens störend wirkt. Nur dachte ich, das sei kein Problem, weil es im Buch von Bohm als Normalfall beschrieben wird. Im Dialog kommen fundamentale Vorstellungen zu Tage, und die erzeugen fast zwingend Konflikte. Es geht im Dialog darum, mit solchen Konflikten fertig zu werden, indem man die eigenen Annahmen in der Schwebe hält. Natürlich meinen jeweils beide Parteien, sie hätten recht und der andere würde die Sache nicht richtig sehen, aber eben genau das ist das Problem, das zu lösende Problem, wenn ich Bohm recht verstanden habe. Und wir meinen wohl beide, wir hätten Bohm richtig verstanden."

Renate schaute auf den Boden. Sie sagte nichts.

Elmar sagte: "Ok, dazu will ich auch etwas sagen. Ich nehme wie Rolf vorgeschlagen hat, alles was ich hier höre, als Beiträge zu unserem Dialog. Das heisst, ich überlege mir immer, inwiefern ich das auch sagen könnte. Was Renate gesagt hat, könnte ich schon der Form halber hier nicht sagen, weil sie Peter angesprochen hat und ihm eine wirkliche Frage gestellt hat. Dabei ist für mich wieder deutlich geworden, was Fragen sind. Sie blockieren die Kommunikation, weil sie ein bestimmte Richtung erzwingen. Aber was ich eigentlich sagen will, ist folgendes. Wenn ein Konflikt auf Perspektiven zurückgeführt werden kann, kann man ihn mit einer weiteren Perspektive lösen. Ihr kennt vielleicht das Beispiel, in welchem ein Erd- und ein Marsbewohner darüber streiten, wessen Planet im Zentrum steht. Da kommt ein dritter dazu, beispielsweise der Johann Keppler und sagt, dass die Sonne im Zentrum stehe und die Erde und der Mars gleichberechtigt um die Sonne kreisen. Mir scheint nun, dass wir hier ein ähnliches Problem haben. Wir haben immer noch sehr verschiedene Vorstellungen vom Dialog. Wir sollten sie uns bewusst machen und dann schauen, wo ein dritter Standpunkt ist, der für beide Seiten oder für alle hier geht. Die Geschichte, die ich erzählt habe, habe ich aus einem Buch, das heisst, die Wahrheit sei die Erfindung eines Lügners. Das ist irgendwie paradox, aber die Auflösung dieser Paradoxie ist ganz einfach, die habe ich im Buch von Bohm gelesen. Man könnte darin leider eine weitere Regel sehen, aber ich sehe jetzt keine Regeln mehr, sondern Verheissungen. Wenn ich einmal so weit bin, wenn ich menschlich geworden bin, werde ich nie mehr über die Wahrheit sprechen. Ich meine nicht, dass es keine Wahrheit gebe. Und ich meine auch nicht, dass jeder seine eigene Wahrheit habe. Ich meine, dass man die Wahrheit im Dialog nicht sagen kann." Er lachte und sagte: "Ich meine natürlich, dass man die Wahrheit sagen kann, aber man kann nicht sagen, dass es die Wahrheit ist. Ich kann nie sagen, das etwas Bestimmtes wahr ist."


 
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Peter fragte erstaunt: "Das hast du im Buch von Bohm gelesen?"

Elmar sagte: "Ja. Er hat geschrieben, dass ... Nein, ich will etwas anderes sagen. Du hast mir eine Frage gestellt, und ich habe es beinahe wieder nicht gemerkt. Denn wenn ich es merke, gebe ich natürlich keine Antwort. Ich antworte im Dialog nur auf Fragen, wenn ich es nicht merke. Ein freier Mensch muss nie antworten."

Rene sagte: "Offenbar muss man dieses Buch gelesen haben, um hier mitmachen zu können ..."

Lisa sagte: "Ich hätte jetzt aus diesem Gespräch genau das Gegenteil gefolgert. Die beiden haben das Buch gelesen, aber sie haben ja zwei ganz verschiedene Bücher gelesen, und ich habe vermutlich nur gemeint, das Buch auch gelesen zu haben. Ich vermute, sie haben das Buch verschieden gelesen, weil sie unabhängig von Buch sehr verschieden sind. Das Buch lesen nützt also gar nichts, weil hier doch jede etwas anderes weiss oder gelesen hat. Vielleicht bringt uns aber die Geschichte über die Wahrheit weiter, wobei es mir völlig egal ist, was darüber im Buch steht und was nicht. Es wird ja nichts dadurch wahr, des es in einem Buch steht. Ich habe gelesen ... Nein, dass ich es gelesen habe, ist so unwichtig wie das Buch, in welchem ich es gelesen habe. Dass etwas wahr ist, muss ich nicht sagen, weil sich die Wahrheit ohnehin durchsetzt."

Peter sagte: "So blauäugig möchte ich auch einmal sein".

Renate schlug auf die Klangschale. Als sie ausgeklungen war, sagte sie: "Ich habe das Gefühl, hier in einer Diskussion zu sitzen, die ich ziemlich blöd finde. Kann mir jetzt einmal jemand sagen, warum ihr die Regeln abgeschafft habt, als ich nicht da war?"


 
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Ich hörte die Frage ganz deutlich und antwortete: "Wir haben keine Regeln abgeschafft. Wie Elmar vorher sagte, haben wir eine neue Deutung für das, was wir bisher etwas unglücklich Regel genannt haben, gefunden. Wir sprechen jetzt von Verheissungen. Ich habe gemeint, damit hätten wir einen grossen Fortschritt gemacht, weil es für mich ein grosser Schritt war. Ich habe für mich ein ganz neue Bedeutung des Dialoges erkannt, aber das scheint mir jetzt doch etwas ziemlich privates gewesen zu sein. Ich finde den Dialog so erstaunlich, weil hier immer sichtbar ist, wie jeder und jede etwas anderes vom Buffett nimmt." Ich holte den Sprechstab, der in der Mitte lag, und sagte: "Peter war letztes Mal auch hier. So wie er jetzt unseren Dialog zusammengefasst hat, hat er aber letztes Mal etwas ganz anderes gehört als ich, oder ich habe etwas anderes gehört als er. Ich möchte überhaupt nicht entscheiden, was letztes Mal wirklich gesagt wurde. Ich möchte etwas darüber sagen, was sich für mich verändert hat. Am Anfang dachte ich, dass wir bei Sprechen im Dialog bestimmte Regeln beachten, jetzt achte ich darauf, dass ich so spreche, wie ich es am liebsten tun würde. Die Verheissung lautet, dass mir das eines Tages gelingen wird. Wenn ich soweit bin, wie Elmar sagte, wenn ich menschlich geworden bin, werde ich in der ich-Form daüber sprechen, wie ich die Welt am liebsten sehen würde. Wir nannten das Utopie. Ich bin jetzt hier, um das zu üben. Ich will das mit euch zusammen erleben, aber ich will nicht, dass ihr das auch erleben müsst. Mir ist es recht, wenn ihr hier ganz ander Sachen übt. Am schönsten wäre für mich schon der Zufall, dass ihr so üben würdet, dass wir einander helfen können. Aber das ist eben auch ein Utopie." Ich legte den Stab zurück und sagte: "Ich brauche diesen Stab nicht mehr. Er erinnert mich nur noch daran, dass ich einmal die Regel erkannt habe, dass ich anderen Dialogteilnehmern nicht ins Wort fallen will. Ich kann das jetzt auch üben, ohne diesen Stab zu holen."

Renate holte den Stab und sagte: "Das ist alles sehr interessant, ich habe wohl das letzte Mal sehr viel verpasst. Aber jetzt fühle ich mich wieder richtig im Dialog. Vielleicht brauchen wir jetzt diesen Stab wirklich nicht mehr, er hat ja ohnehin nicht immer geholfen. Und die Vorstellung, dass wir keine Regeln, sondern Verheissungen haben, gefällt mir sehr gut, auch wenn ich das mit der Utopie noch nicht recht verstanden, aber das macht nichts, eine Ahnung habe ich schon. Ich bin gespannt." Sie legte den Stab zurück neben die Schale.

Rene sagte: "Ich nehme an, dieser Stab zeigt, wer reden darf. Und jetzt wird er einfach nicht mehr benutzt. Aber wir sollten trotzdem darauf achten. Und mit allen anderen Regeln wird das jetzt auch so sein. Ich kenne die Regeln nicht, aber wenn ich aufpasse, werde ich wohl schon merken, wie und worum es geht. Das mit dem Fragen habe ich auch nicht recht verstanden, aber jetzt wurden ja viele Fragen gestellt. Mich würde das mit der Wahrheit noch etwas genauer interessieren. Ich kann mir eigentlich nicht viele Situationen vorstellen, in welchen jemand sagt, dass er die Wahrheit sagt. Gut, vor Gericht muss man sogar schwören, dass man die Wahrheit sagt, aber das ist je eine ziemlich spezielle Situation, die ich überdies nur vom Film kenne, weil ich noch nie vor einem Gericht gestanden bin. Das ist übrigens wahr."


 
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Lisa sagte: "Ja, die Regeln kann man leicht erkennen. Eigentlich kennen wir sie immer schon, man kann einfach in sich hinein horchen. Im Prinzip wissen wir doch ganz genau, was wir wie sagen dürfen, wenn wir unser Gegenüber ernst nehmen wollen. Bitte entschuldigt, ich meinte, dass ich die Regeln, ja Ihr wisst ja, ich wollte nicht man sagen. Für mich heisst Dialog jetzt ganz einfach mein Gegenüber ernst zu nehmen. Das ist etwas ganz anderes als die Wahrheit. Im Dialog will ich keine Wahrheit finden. Ich will verstehen, wie wie mein Gegenüber die Welt sieht und ob ich sie auch so sehen kann."

Rene sagte: "Ich glaube, es ist nicht so einfach, das Gegenüber immer ernst zu nehmen. Ich glaube, das ist eine gewaltige Utopie. Mir gelingt es jedenfalls sehr oft nicht ganz, um es einmal so zu sagen. Das Beispiel mit dem Gericht war aber nicht gannz zufällig gewählt, sondern eher als exemplarische Situation, die gerade dadurch charakterisiert ist, dass sich die dort Anwesenden allesamt nicht ernst nehmen. Oder etwas gemässigter formuliert, davon ausgehen, dass sie von den andern nicht ernst genommen werden. Der Angeklagte weiss, dass der Richter ihm nicht glaubt, der Richter weiss, dass der Angeklagte meistens lügt und Staatsanwälte ud Verteidiger verdrehen alles von berufswegen. Es ist doch ganz typisch, dass gerade dort am meisten von Wahrheit gesprochen wird." Er schaute Lisa an und sagte: "Dein 'im Prinzip wissen wir ganz genau, was wir sagen müssten' ist genau richtig formuliert. Im Prinzip sagen wir immer, wenn wir das Gegenteil meinen. Im Prinzip ist es so, aber wirklich ist es genau umgekehrt. Meistens wissen wir nicht, was wir vernünftigerweise sagen, weil wir nie wissen, wie es bei Gegenüber ankommen wird. Stell Dir einfach vor, Du sässest gerade in einem Kreuzverhör, schuldig oder nicht!"

Ich sagte: "Das erinnert mich an eine interessante Uebung. Man muss sich dabei zuerst an eine Situation erinnern, in welcher einer der Ausdrücke Wahrheit, Wirklichkeit oder Realität ausgesproche wurden. Dabei ist unwichtig, ob ich es war oder mein Gegenüber, der das Wort gesagt hat.. Dann muss man sich die Situation, in der das Wort gefallen ist, möglichst genau vergegenwärtigen. Worum ging es? Wie war die Stimmung, was war der Anlass? Einfach möglichst konkret. Macht doch das mal jetzt!"

Peter sagte: "Deine beiden Vorredner haben wie Du auch gerade jetzt solche Wörter ausgesprochen. Aber das meinst Du wohl nicht."

Rene sagte: "Ich vermute eben, dass das Gericht exemplarisch dafür ist. Diese Begriffe verwenden wir, wenn wir streiten, vermutlich ausnahmslos dann."


 
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Elmar sagte: "Ich sehe das auch so, wobei Gercht und Streiten wohl extreme Fälle darstellen. Allgemeiner kann man vielleicht von Diskussionen sprechen, deshalb kann man unseren Dialog als Antidiskussion verstehen. Ich merke, dass ich mich wiederhole, fast, wie wenn ich eine bestimmte Sicht durchsetzen wollte. Aber das ist nicht so, die Antidiskussion kommt mir einfach immer wieder in den Sinn. Ich bin wohl etwas darauf fixiert. Egal, seit ich weiss, dass es hier nicht um Regeln geht, bin ich ein richtiger Fan von Regeln geworden. In einer Regel kann ich die Sache, die ich sagen will, am einfachsten auf den Punkt bringen. Regeln sind wie Rezepte. Ich will deshalb nochmals eine Regel formulieren, um zu sagen, inwiefern es im Dialog um Wahrheit geht. Es geht darum, dass ich im Dialog Wörter wie Wahrheit und Wirklichkeit nie ausspreche. Nein, ich muss das genauer formulieren. Und ich brauche etwas Zeit und vor allem Eure Nachsicht, weil ich gar noch nicht genau weiss, was ich sagen werde. Ich versuche es mit einem anderen Wort. Realität. Das ist in der Hinsicht, die mir jetzt wichtig ist, verwandt mit Wahrheit. Wenn ich sage, dass ich die Realität beschreibe, sage ich eigentlich zugleich zwei Dinge, die im Dialog nicht gehen. Ich sage erstens, dass ich nichts dafür kann, dass es so ist, wie es ist, weil ich nur beschreibe, was der Fall ist. Und ich sage zweitens, dass alle andern das auch so sehen müssen, oder eben andernfalls Phantasten sind. Ich gebe ein Beispiel. Ich sage jetzt, dass Renate vor einigen Minuten Peter im Dialog eine ziemlich unangenehme Frage stellte. Jetzt könnte es sein, dass Renate oder ihr alle Euch nicht mehr daran erinnert. Dann könnte ich sagen, dass es wirklich so war. Ich würde damit die Realität beschwören. Das wäre zunächst immer noch kein Problem, solange nicht jemand von Euch sich erinnern könnte, dass es wirklich anders war und deshalb auch die Realität anrufen würde. Dann aber würde die Realität gegen die Realität stehen. Das ist etwas anders, als wenn meine Erinnerung gegen eine andere Erinnerung steht. Und mit der Wahrheit ist es eben auch so. Wenn ich also Wörter wie Realität oder Wahrheit verwende, provoziere ich Konflikte. Rene entschuldige bitte, das ich Dich unterbrochen habe, aber ich musste das jetzt sagen."

Mehrere Leute fingen an zu antworten und verstummten dann, als sie merkten, dass andere auch sprachen. Dann sagte Renate: "Wunderbar, wir brauchen den Sprechstab nicht. Und vielleicht gelingt es uns, noch etwas langsamer zu werden. Ich probiere mal folgende Regel. Ich warte immer mindestens drei Sekunden. Aber ich will daraus keine Regel für uns alle machen."

Lisa sagte: "So gefallen mir natürlich alle Regeln."

Heinzpeter sagte: "Ich bin auch gar nicht der Meinung von Lisa, wonach es leicht ist, zu wissen, wie wir vernünftigerweise miteinander sprechen, wenn wir uns ernst nehmen. Das hat sogar zwei Seiten. Ich weiss gar nicht recht, was ernstnehmen im konkreten Fall heisst. Manchmal muss ich ziemlich unangenehme Dinge sagen. Dabei nehme ich vielleicht schon etwas ernst, aber vielleicht mehr die Situation als mein Gegenüber. Das Gericht ist ja auch dafür ein gutes Beispiel. Aber vor allem finde ich, dass ich auch nicht wissen kann, wann sich mein Gegenüber ernst genommen fühlt. Ich glaube in einem ganz generellen Sinn, dass Experimente, ich meine, vertretbare Experimente die beste Methode sind. Ich habe unsere Regeln immer so verstanden. Wir machen etwas bestimmtes ab und schauen dann, wie es sich auswirkt. Ihr wisst ja", er zögerte etwas und fuhr weiter: "oder den andern sage ich es jetzt, dass ich ursprünglich auch ein Naturwissenschaftler bin. Ich sehe die Welt durch Experimente. Und nur nebenbei, ob man sagt, dass Wissenschaftler die Wahrheit suchen oder nicht, ist nur eine Frage, was man als Wahrheit bezeichnet. Als Wissenschaftler und ich eben auch als Privatperson, mache ich Experimente und schaue, was dabei rauskommt. Dieser Dialog hier, ist für mich ein Experiment. Und innerhalb dieses Dialoges sind die Regeln Experimente. Die meisten Regeln haben sich meiner Meinung nach nicht bewährt. Das ist aber kein Problem. Ich bin trotzdem für Regeln, weil wir so das Experiment genau bestimmen und so genau herausfinden, was sich für uns bewährt und was nicht."

Mehrere Leute fingen an zu antworten und verstummten dann, als sie merkten, dass andere auch sprachen. Dann sagte Renate: "Wunderbar, wir brauchen den Sprechstab nicht. Und vielleicht gelingt es uns, noch etwas langsamer zu werden. Ich probiere mal folgende Regel. Ich warte immer mindestens drei Sekunden. Aber ich will daraus keine Regel für uns alle machen."

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Peter sagte: "Es gibt in der Wissenschaftstheorie eine Vorstellung, wonach Wissenschaft nie die Wahrheit erreichen kann. Popper hat diese Theorie erfunden. Er sagte wie Hanspeter, dass Wissenschaftler Experimente machen. Er sagte aber, dass man mit Experimenten nur zeigen könne, was nicht der Fall sei, aber niemals, was der Fall sei. Ich kann also zwei Hypothese aufstellen. Die eine sagt, dass ein schwerer Gegenstand, etwa ein Stein immer zum Boden fällt, die andere Hypothese sagt, dass ein Stein nie zum Boden fällt. Zu beiden Hypothesen kann ich ein Experiment machen, indem ich einen Stein auflese und loslasse. Wenn der Stein zum Boden fällt, habe ich gezeigt, dass die zweite Hypothese falsch ist, aber ich habe nicht gezeigt, dass die erste Hypothes richtig ist .."

Lisa sagte: "Ich schlage jetzt nicht auf die Klangschale, sondern übe, Dir zuzuhören."

Peter stand auf und verneigte sich vor Lisa: "Besten Dank. So könnte ein Dialog möglich werden. Was ich sagen wollte, ist, dass ich Poppers Vorstellung einerseits für praxislosen Blödsinn halte und andererseits ganz viel davon in unseren Regeln wiedererkenne. Das ist mir jetzt bewusst geworden, weil Hanspeter von Experimenten gesprochen hat. Alle Wissenschaftler, die ich kenne, machen Experimente, um etwas zu beweisen, also um Zusammenhänge zu erkennen." Er zog einen Kugelschreiber aus seiner Jacke und sagte: "Also ich bin ganz sicher, dass meine Kugelschreiber zum Boden fällt, wenn ich ihn loslasse. Ist jemand hier, der anderer Meinung ist?"

Renate sagte: "Peter, merkst Du, dass Du diskutierst. Hier geht es doch nicht um Deinen Kugelschreiber ..".

Lisa sagte: "Für mich geht es darum, ob ich Peter zuhören kann. Ich verstehe zwar jetzt nicht, was er jetzt erzählt, also ich meine, warum er jetzt diesen Vortrag hält, aber ich möchte das, was er sagt, in der Schwebe halten. Vielleicht wird mir später klar, wozu das gut ist, obwohl ich es jetzt gar nicht sehen kann."

Renate sagte: "Du hast recht. Ich bitte um Entschuldigung, Peter und Euch alle. Es fäll mir einfach .. ach ich bin jetzt still."

Peter sagte: "Also meine Frage war, ob jemand von Euch glaubt, dass der Kugelschreiber nicht zum Bodem fällt. Ich gebe zu, das ist ein banales Beispiel, aber es geht mit darum, dass wir sicher ein Stück weit, ein sehr grosses Stück weit, eine gemeinsame Wahrheit haben. Wer will, soll dazu wie Popper nicht widerlegtes Wissen sagen, das macht für mich keinen wesentlichen Unterschied, ich hänge nicht an Wörtern. Im Dialog kann man, ok, kann ich nicht gegen dieses Wissen verstossen. Es gibt auch andere Fakten, die ich nicht einfach wegdialogisieren kann." Er schaute Avital an und sagte: "Etwa den Holocaust. Den kann doch niemand ernsthaft bestreiten, oder?"


 
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Avital schaute auf den Boden und sagte nichts. Ich sagte: "Ich bin immer hin und hergerissen, ich finde diese ewige Regelgeschichte macht uns mürbe, aber wir brauchen offenbar, sorry, ich brauche offenbar Regeln, oder vielmehr Verheissungen. Ich freue mich riesig auf die Zeit, wo wir so sprechen, wie wir es uns Verheissen. Jetzt also bin ich für eine neue Regel. Ich glaube, im Dialog gibt es keine, gar keine Fakten. Ich will damit nicht sagen, dass es keine Fakten gibt. Ich will damit sagen, dass im Dialog nichts als Faktum bezeichnet wird. Was wahr ist, ist wahr, aber im Dialog sage ich nicht, dass etwas wahr oder nicht wahr ist. Aeh .., ich meine, ich will Euch nichts vorschreiben. Ich erzähle Euch, wie ich mir einen Dialog vorstelle oder welche Verheissungen mir vorschweben. In einem guten Gespräch muss ich nie etwas als Faktum bezeichnen, und wenn die andern das auch nicht machen, muss ich auch nie ein Faktum leugnen."

Peter sagte: "Bis jetzt schien mir der Dialog, also dieser Dialog, nicht jener, den Bohm vorgeschlagen hat, ziemlich eigenartig, vielleicht etwas esoterisch, aber jetzt wird es sogar gefährlich. Wenn man nicht mehr sagen darf, was wahr und richtig ist, dann .."

Ich sagte: "Peter, hör mir zu! Ich sagte, dass ich Euch nichts vorschreiben will. Du kannst also von mir aus sagen, was Du willst. Ich sagte überdies nicht, dass ich nichts Wahres sage, sondern dass mir wichtig scheint, dass .. Du erwischst mich mit Deinen Provokationen immer wieder. Ich wollte Dich nicht unterbrechen."

Peter sagte: "Ich frage mich, wohin Dialoge führen sollen, wenn man eindeutig falsche Aussagen nicht zurückweisen darf. Was würdet Ihr beispielsweise tun, wenn hier ein Holocaustleugner mitmachen würde?"

Ich sagte: "Ich sage jetzt nicht schon wieder, dass Du mir besser zuhören solltest, aber ich muss wenigistens sagen, dass ich es nicht sage. Ich stelle mir den Dialog so vor, dass hier keine Wahrheiten beschworen werden. Hier würde also niemand sagen, dass etwas wirklich der Fall ist oder dass etwas wirklich nicht der Fall ist. Ich will gerne auch auf Dein Beispiel von David Bohm zurückkommen. Die beiden Physiker Einstein und Bohr konnten, so wie ich es verstanden habe, nicht miteinander sprechen, weil sie für ihre Theorien keine adäquaten Formulierungen gefunden haben, keine nämlich, die es zugelassen hätten, mit dem andern darüber zu sprechen. Ich glaube, im Dialog geht es darum, so zu formulieren, dass ein Gespräch möglich ist. Genau deshalb kommt ein Behaupten von Tatsachen so wenig vor, wie Deine rhetorischen Fragereien. Ich wollte nichts definieren, sondern darüber sprechen, wie ich mir Dialoge vorstelle, ich weiss, dass es andere Vorstellungen gibt." Peter wollte etwas entgegnen, ich sagte: "Warte, ich will noch etwas sagen, oder nochmals sagen. Ich weiss nicht, was ein Dialog wirklich ist, und nicht, wie ein Dialog sein sollte. Aber ich weiss ziemlich gut, was ich hier in dieser Dialogveranstaltung üben will. Ich will nicht diskutieren, was wahr ist, und auch nicht, was wissenschaftlich oder sonst wie wahr ist."


 
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Peter sagte: "Ja, gut. Wenn ich Dich recht verstehe, darf hier also jeder sagen, was er will, auch den Holocaust leugnen oder die Gravitation ausser Kraft setzen. Ich halte das für eine sehr gefährliche Laisser-faire-Politik."

Ich sagte: "Ich lasse Deine Laisser-faire-Politik gerne auf unserem Buffet stehen, bis ich etwas damit anfangen kann. Mir geht es im Moment um mögliche Formulierungen. Wie hätten Einstein und Bohr formulieren müssen, damit ein Dialog möglich gewesen wäre? Was von dem, was ihnen so notwendig, so unbedingt schien, hätten sie weglassen müssen? Ich stelle mir Wissenschaft, also die Naturwissenschaft oder die Physik so vor, dass dort Experimente gemacht werden. Nun könnte jeder Wissenschaftler einfach berichten, welche Experimente er wie gemacht hat und wie sie in seiner Wahrnehmung ausgegangen sind. Dazu müsste er nicht zusätzlich sagen, dass es wirklich so war. Und er müsste auch nicht behaupten, dass die Experimente immer denselben Ausgang nehmen. Er könnte einfach sagen, was er wahrgenommen hat, und jeder könnte ihm glauben, oder die Experimente selbst wiederholen."

Peter sagte: "Das ist doch völliger Quatsch. Wissenschaft funktioniert doch nicht so."

Lisa sagte: "Wisst ihr eigentlich, worüber ihr sprecht? Ich weiss es nicht. Ich verstehe nichts von Physik und ich habe keine Ahnung, worüber Einstein und Bohr gestritten haben. Ich müsste schon längstens wieder auf die Klangschale hauen."

Elmar sagte: "Einstein und Bohr haben offenbar einfach gestritten oder hartnäckig, unnachgibig diskutiert und kein Gericht gefunden, dass den Fall entscheiden konnte. Offenbar haben sie nicht über Experimente gestritten, sondern eher über die Wahrheit."

Hanspeter sagte: "Der Streit ist auch für Physiker nicht leicht nachvollziehbar, es geht um Zufälle und Komplemantaritäten in der Quatenphysik. Man sagt aber auch, dass es mehr um eine Rivalität zwischen den beiden gegangen sei. Der Streit ist bekannt geworden, weil Einstein darin sagte, dass Gott nicht würfle, was ja selbst ein unsinnige Behauptung ist. Wer weiss schon, was Gott macht oder nicht macht. Im Streit zwischen den beiden ging es um letzte Wahrheiten. Einstein behauptete, dass die Relativitätstheorie zeige, dass erschöpfend Theorie möglich seien, während Bohr behauptete, die Quantenphysik liesse sich nur komplementär beschreiben. Der Streit wird vielleicht nie ein Auflösung finden, heute neigen die meisten Physiker zu Ansicht von Bohr, aber eigentlich ist es gleichgültig. So weit ich weiss, hat Einstein über Bohm gesagt, er sei der grösste Physiker, weil er auch noch sehe, wo Physik unsinnig werde."


 
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Rene holte den Sprechstab. Er blieb in der Mitte stehen und sagte: "Ist es möglich, dass wir uns etwas verrannt haben? Wenn Laien über Quantenphysik reden, wird mir immer mulmig. Ich glaube, Rolf hat eine Regel vorgeschlagen, zu welcher Peter einen Einwand gemacht hat. So wie ich Renate vorhin verstanden habe, galten die Regeln früher jeweils für alle, aber neuerdings kann hier jeder Regeln für sich selbst definieren. Im ersten Moment ist mir das etwas seltsam vorgekommen, weil ich an ein Fussballspiel dachte, in welcher jeder nach seinen eigenen Regeln spielt. Aber wir spielen ja hier nicht Fussball. Hier wäre vielleicht möglich, dass Rolf die Wörter Wahrheit und Wirklichkeit nicht mehr verwendet, und Peter weiterhin sagt, was wahr ist und was nicht."

Lisa sagte: "Ja, genau. Wir üben ja auch in die Mitte zu sprechen, also ich, und ich übe eben auch aus der Mitte das zu hören, was ich brauchen kann. Ich habe jetzt realisiert, dass ich Wahrheiten nicht brauchen kann und ich gebe mir die Regel, auf Wörter wie Wahrheit zu verzichten. Uebrigens, wenn ich mir hier solche Regeln gebe, bin ich jedesmal überrascht, wie ich die Gespräche ausserhalb dieses Dialoges neu höre. Als ich verher versuchte, mich an eine Situation zu erinnern, in welcher jemand Wahrheit gesagt hat, ist mir gar nichts in den Sinn gekommen, aber ich bin ganz sicher, dass ich ab jetzt diesem Wort schritt auf Tritt begegnen werde."

Hubert sagte: "Ich will dazu zwei Sachen sagen. Erstens sollten wir jetzt wirklich nicht mehr von Regeln sprechen. Ich meine jetzt wirklich wir, nicht ich, und ich meine es wirklich. Ich will damit sagen, dass ich mit meinem Satz Regelverstösse machen würde, wenn wir noch Regeln hätten, aber wir haben Verheissungen. In einem Fussballspiel gelten Regeln. Die gelten und gelten für alle und werden durchgesetzt, manchmal mit Platzverweis, was hier ja auch schon agedacht wurde. Verheissungen gelten in der Zukunft, sie werden wahr, wenn wir uns entwickeln, aber es sind keine Regeln, die wir jetzt einhalten müssen. Deshalb ist es überhaupt kein Problem, wenn wir verschiedeen Verheissungen nacheifern. Wir sollten sie uns einfach mitteilen und dann kann jeder und jede selbst entscheiden, was für ihn oder sie wie rasch erstrebenwert ist." Er macht eine kleine Pause und fuhr dann weiter: "Zweitens will ich Euch von einer Entdeckung erzählen, die ich jetzt für mich gemacht habe und die mein Leben verändern wird, ich denke grundlegend." Er machte wieder eine Pause, sogar eine etwas längere. Dann sagte er: "Ich befasse mich seit längerer Zeit mit dem Radikalen Konstruktivismus und mit Systemtheorie .."

Heidi fragte: "Was ist das?"

Hubert antwortete: "Das will ich Euch erzählen. Nur kurz, weil ich annehme, dass die meisten das schon mehr oder weniger gut kennen. Und ich erzähle es eben gleich so, wie ich es jetzt entdeckt habe. Plakativ geht es um die rhetorisch gemeinte Frage 'Wie wirklich ist die Wirklichkeit?' Die Antwort lautet, es gibt keine Wirklichkeit, alles ist nur Konstruktion. Ich habe mich jetzt lange mit dieser Frage in verschiedenen Formen rumgeschlagen und eigentlich sehr oft blöde Diskussionen erlebt. Das wird mir ab sofort nie mehr passieren, weil ich das Wort Wirklichkeit einfach nicht mehr verwende. Es hat ausgespielt, es spielt keine Rolle mehr. Ich werde mich auch jenseits des Dialoges nie mehr erwischen lassen. Ich glaube überdies, ohne das jetzt schon durchdacht zu haben, dass das auch ganz im Sinne des Radikalen Konstruktivismus ist. So wie ich mir das jetzt vorstelle, könnter der Konstruktivismus die Grundlage des Dialoges sein."


 
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Niemand sagte etwas dazu. Nach einer Weile sagte Hubert: "Für mich stand eigentlich immer etwas die Frage im Raum, wozu diese Dialogübungen gut sein könnten. Das Setting ist doch ziemlich speziell, dachte ich jedenfalls, so dass nicht leicht zu erkennen ist, inwiefern der Dialog auch draussen in der Wirklichkeit möglich ist."

Heidi sagte: "Du bist Deinem grossen Vorsatz aber nicht lange treu. Jetzt hast Du doch schon wieder Wirklichkeit gesagt." Sie lachte und fügte an: "Ich habs nicht so ernst gemeint."

Hubert sagte: "Doch, doch. Ich merke jetzt auch, dass ich das Wort in zwei verschiedenen Bedeutungen verwende. Jetzt habe ich gar nicht Wirklichkeit gemeint, sondern eher Alltag, draussen eben. Lisa hat ja vorher gesagt, dass die Verheissungen, die sie hier im Dialog wählt, ihr dann draussen immer wieder begegben. Die Uebungen hier sensibilisieren mich generell. Ich nehme meine Umwelt insgesamt anders wahr. Ich dachte zunächst, dass ich draussen, wenn ich so sagen darf, in bestimmten Situationen einen Dialog machen könnte. Aber ich wusste ja immer, dass man Dialoge nicht machen kann. Jetzt habe ich gemerkt, dass ich mich verändere, meine Perspektive."

Lisa sagte: "Ja, so erlebe ich das auch. Aber ich frage mich schon, ob man nicht an vielen Orten, wo blöde Diskussionen laufen, Dialoge einführen könnte?"

Renate sagte: "Erfahrungen habe ich keine, aber ich kann Euch einiges erzählen, was ich in andern Veranstaltungen gehört habe. Ich schage aber vor, dass ich das im Vorbahnhof mache, weil es ja doch eher ein Vortrag wäre." Sie lachte und stand auf. "Ich schlage vor, dass wir jetzt aufhören, weil wir wieder einen guten Punkt erreicht haben. Den Checkout verlegen in den Vorbahnhof. Wenn ich Euch eine Aufgabe mitgeben dürfte, würde ich nach den letzten Beiträgen von heute sagen, dass Ihr wie ich da drraussen in der Welt speziell auf Ereignisse oder Erlebnisse achtet, die Ihr mit dem Dilog in Verbindung bringen könnt. Ich danke Euch für die angeregte Stunde und hoffe, Euch noch bei einem Bier und sicher nächstes Mal wieder im Dialog zu sehen.

* * *


 
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Im Vorbahnhof war es wie üblich etwas laut, so dass sich die Idee, den Bericht von Renate dorthin zu verlegen, als nicht sehr glücklich erwies. Wir merkten, dass eigentlich alle gerne hören würden, was Renate erzählen wollte und beschlossen, dass sie das im nächsten Dialog anstelle einer Einführung vortragen solle. Peter meinte, dass sich solche kurzen Referate am Anfang des Dialoges einbürgern würden. Er denke, dass sich so mit der Zeit auch Themen für die Dialoge ergeben könnten, quasi ohne dass Themen abgemacht würden.

Kommunikation

Ich nahm den Hinweis von Peter, wonach wir unseren Dialog schon wieder mit einem kleinen Referat eröffnen würden, ernst und schrieb deshalb in der Einladung auch, dass Renate am Anfang etwas über die konventionelle Praxis des Dialogverfahrens erzählen würde. Ich schrieb, dass man auch nach diesem Vortrag zum Dialog kommen könne, wenn man keine Vortäge hören wolle, weil ich so nochmals auf eine Differenz hinweisen konnte, die mir wichtig war.

Renate schickte dann eine mail an die Leute, die schon einmal im Dialog waren, in welcher sie schrieb, dass sie keine Vortrag machen, sondern nur kurz berichten wolle, was sie über das Dialogverfahren an andern Orten gehört habe. Sie würde höchstens fünf Minuten sprechen und nur, weil sie gefragt worden sei und wir das so abgemacht hätten. Sie selbst wolle ja auch keine Vorträge hören.

* * *

Ich ging bewusst etwas zu früh in den Dialog und stellte die Stühle wieder in drei Reihen, was diesmal natürlich auch bewusste Reaktionen provozierte. Peter realisierte, dass er seinen Vortrag im Kreis gehalten hatte und Renate sagte nochmals, dass sie gar keinen Vortrag halten wolle. Ich sagte, dass ich den Unterschied zwischen einem Vortrag und einem Dialogbeitrag eigentlich nicht benennen könne, dass sie selbst aber das letzte Mal vorgeschlagen habe, die Sache nicht im Dialog, sondern beim Bier zu erzählen. Peter sagte, dass wir dort ja auch in einem Kreis gesässen wären, und ich sagte, dass das vielleicht der versteckte Grund dafür gewesen sei, erst heute darüber zu sprechen. Ich machte den Vorschlag, dass wir vor dem Vortrag von Renate, der ja kein Vortrag sein sollte, gemeinsam über die Stuhlordnung abstimmen sollten.

Da das Spiel aber bei fast allen schon bekannt war, setzten sich alle ausser Renate in die Stuhlreihen. Sie blieb zwar auf der Seite der Stuhlreihen stehen, aber sie stand trotzdem vorne, weil alle zu ihr schauten.


 
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Renate sagte: "Also gut, ich verstehe zwar nicht recht, was wir hier spielen, aber Ihr scheint Euch einig zu sein. Ich wollte ja letztes Mal noch ein paar Worte darüber sagen, was andere mit dem Dialog machen und weil es dann im Vorbahnhof doch nicht recht passte, sage ich es heute. Es soll aber kein Vortrag werden. ich hätte das gut im Kreis sagen können". Während sie das sagte, ging sie nach vorne. Dan sagte sie: "Ich habe Euch ja von meiner ersten Erfahrung mit dem Dialog schon erzählt, wenigstens einigen von Euch. Ich bin dann noch in ein paar andere Dialoge hineingeraten und habe vor allem auch einiges über den Dialog gehört, wie er von anderen Menschen verstanden und praktiziert wird. Vereinzelt habe ich auch davon schon erzählt. Ich spreche hier nur von Dialogen, die sich grundsätzlich mehr oder weniger auf das Dialogprinzip von David Bohm beziehen. Mir scheint es gibt zwei grundsätzlich verschiedene Vorstellungen. Die eine passt zu dem, was wir machen, die andere betont mehr das Verfahren oder die Methode. Von Verfahren oder Methode spreche ich, wenn ich etwas für etwas verwende. So wie wir den Dialog ausüben oder praktizieren - Rolf, mir gefällt diese Idee von Dir sehr gut - dialogisieren wir, weil wir den Dialog wollen. Die andere Möglichkeit besteht darin, einen Dialog zu führen, weil man ein bestimmtes Ziel erreichen will. Dann ist der Dialog ein Mittel. Vielleicht versteht Ihr besser, was ich meine, wenn ich Euch ein Beispiel gebe. Ich habe gehört, dass der Dialog im Coaching eingesetzt wird, beispielsweise zur Verminderung von gruppendynamischen Problemen. Ich habe von einem Fall gehört, in welchem eine Schule, also die Schulleitung, der Lehrkörper und weitere betroffene Leute so zerstritten waren, dass sie gar nicht mehr niteinander reden konnten. Dort wurde der Dialog als Mediationsverfahren gewählt. In einem andern Fall ging es darum in der öffentlichen Verwaltung ein Verfahren festzulegen, das sehr viele verschiedene Institutionen betroffen hat. Es ging, wenn ich das recht verstanden habe, um grossflächige Werbung in einer Stadt, wo die Werber, die Polizei, der Heimatschutz und noch viele andere betroffen waren. Alle bilateralen Verhandlungen standen immer quer zu einander. Nachdem man die gemerkt hatte, wurde ein Dialog mit Vertretern aller Institutionen organisiert."

Peter meldete sich zu Wort und sagte dann: "Das ist genau das, was ich mir vorstelle, und auch das, was Bohm wirklich beschreibt. Das sind Problemlösungen, wo andere Verfahren festgelaufen sind und versagen. Das ist der Dialog am Ende der Diskussionen."

Lisa fragte: "Und, hat der Dialog diese Probleme gelöst? Da wir jetzt ja in dieser Vortragsarchitektur sitzen, darf ich wohl auch so ganz direkt fragen, oder?"

Renate sagte: "Ja, fragt nur, aber ich weiss die Antwort leider nicht. Ich habe viele verschiedene derartige Geschichten gehört und weiss nicht mehr, welche wie ausgegangen sind. Aber offenbar funktioniert das nicht so schlecht, denn es wird ja vielfach und in vielen Varianten verwendet. Ich will noch einen zweiten Punkt daran anschliessen, danach würde ich aber lieber mit unserem Dialog anfangen. Wir sind ja nicht für einen Vortrag hierhergekommen. Aber immerhin verstehe ich jetzt auch, wieso die Stühle so stehen. Vortragsarchitektur ist ein gutes Wort dafür. Also wenn man den Dialog als Verfahren einsetzt, liegt es nahe, dass das Verfahren optimiert und natürlich auch geschult wird. Wir haben ja auch schon von verschiedenen Moderationen gesprochen, von Sciedsrictern und Einführungen un so weiter. Es gibt nun offenbar an verschiedenen Orten Ausbildungen, wo man sich zur Dialogexpertin ausbilden lassen kann. Offenbar wird der englische Ausdruck Facilitator oft für solche Dialogmoderatoren verwendet, man würde das mit Ermöglicher übersetzen. Mir war eigentlich bis jetzt, wo ich das Euch erzähle, nicht bewusst, dass die ganze Regelgeschichte vermutlich aus diesem Kontext stammt. Peter hat ja oft genug reklamiert, dass davon im Dialogbuch von David Bohm nichts zu finden ist."


 
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Peter meldete sich erneut und sagte dann: "Ich muss einfach sagen, dass dieser kleine Vortrag extrem informativ war, und wenn Du ihn am Anfang unserer Dialogveranstaltungen gehalten hättest, hätten wir ganz viele Missverständnisse und Diskussionen vermeiden können. Der Dialog ist eine gute Sache, aber er kann unmöglich Vorträge ersetzen. Das will er ja auch gar nicht. Ich werde mich genauer über diese Ausbildungen orientieren, und wenn ihr wollt, werde ich dann nochmals einen kurzen Vortrag dazu halten. Vielleicht bin ich ja nicht der einzige, der sich dafür interessiert. Ich danke Dir jedenfalls sehr dafür, dass Du diesen Vortrag gehaten hast."

Monika sagte: "Ich hätte noch ein paar Fragen. Ich nehme an, dieser Vortrag war als Zusammenfassung gedacht, für Leute, die schon seit einiger Zeit dabei sind. Ich bin aber das erste Mal hier, für mich war er deshalb viel zu kurz. Ich heisse übrigens Monika Breitenmoser. Und jetzt weiss ich natürlich nicht, ob ich Euch mit meinen Fragen langweilen würde, zumal Du ja gesagt hast, dass Du lieber mit dem Dialog weitermachen würdest. Also mich interessiert die Praxis und die Ausbildung sehr. Ich möchte den Dialog unbedingt in der Beratung einsetzen."

Renate sagte: "Ich habe so etwas befürchtet, deshalb wollte ich Euch das alles lieber bei einem Bier erzählen ..."

Monika sagte: "Was hast Du befürchtet?"

Renate sagte: "Ich habe befürchtet, "


 
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Schliesslich sagte Heidi: "Hmm. Das ist blöd, mir gefällt es, wenn niemand spricht. Vermutlich bin ich jetzt ein Störefried. Ich habe jetzt etwas nachgedacht, also unserem Dialog nachgedacht, darüber, was wir jetzt schon alles gesagt haben über den Dialog. Ich versteh immer besser, was wir hier eigentlich tun, aber ich kann es auch immer weniger fassen, ich meine in Worte fassen, wenn ich es jemandem erklären möchte. Für mich ist es jetzt auch ganz unmöglich geworden, dass man am Anfang der Dialogsitzungen eine kleine Einführung geben könnte. Diese Einführung würde doch Stunden dauern, und immer noch oberflächlich sein. Aber trotzdem, so wie ich die Stille hier geniesse und dann trotzdem schwatze, so möchte ich jetzt doch einmal eine Zusammenfassung hören, obwohl das nicht möglich ist, also mir unmöglich scheint."


 
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Es blieb wieder längere Zeit still. Dann sagte ich: "Ich habe jetzt auch darüber nachgedacht, was wir hier schon alles zusammengetragen haben. Ich habe viele Erinnerungen, aber keinen roten Faden. Es ist eher ein Patchwork, eine Art Hypertext. Ich glaube, das hat auch viel damit zu tun, dass wir kaum einer Idee länger nachgegangen sind. Ich stelle mir vor, dass wir im Laufe der Zeit alle diese Ideen wieder aufgreifen und vertiefen werden. Ich würde aber auch gut finden, wenn wir neben den Dialogveranstaltungen an einem Hypertext im Internet arbeiten würden, in welchem wir unsere Vorstellungen zusammen tragen. Ich merke ohnehin immer mehr, dass das Internet ein Dialogstruktur hat. Das Internet, also ich meine natürlich das www nicht die mails, ist für mich der Inbegriff des in-die-Mitte-sprechen, des Buffetts, wo jeder bringt und jeder holt."

Heidi sagte: "Ich wollte eigentlich eine Zusammenfassung der bisherigen Idee, weil es schon so viele sind, und Du bringst statt dessen gleich wieder eine neue Idee, um die Sache noch komplexer zu machen. Das soll natürlich kein Vorwurf sein, ich finde das gut, aber ich bin einfach etwas überfordert. Die Pausen, die Lisa vorgeschlagen hat, oder die wir mit der Klangschale machen können, sind viel zu kurz. Die würden mir vielleicht reichen, wenn ich ein Buch lesen würde, wo alles der Reihe nach kommt. Aber hier geht es ja kreuz und quer ..."

Peter sagte: "Logisch, wenn wir kein Thema haben."

Hubert sagte: "Lustig, ich dachte jetzt auch immer wieder an das Internet. Ich habe ja diese Veranstaltung schon mit den Konversationssalons der Aufklärungszeit verglichen. Dabei habe ich zunächst an des Protokoll, an die Sprachregelungen gedacht. Im Internet gibt es doch auch die Nettiquette, die auch eine Art Protokoll darüber ist, wie man sprechen muss ..."

Heidi sagte: "A propos kreuz und quer, was ist eine Nettiquette?"


 
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Hubert sagte: "Sage ich doch, die Nettiquette sagt: 'Vergiss nie, dass auf der anderen Seite ein Mensch sitzt, wenn Du ins Internet schreibst'. Man könnte sagen, Nettiquette heisst sei nett, aber Nettiquette steht eher für Ettikette im Netz, und Ettikette steht eben für eine Reihe von Regeln, wie wir sie hier haben oder hatten ..."

Renate sagte: "Das ist interessant, das habe ich noch nie gehört, wo gibt es den dies Nettiketten? Oh, ich lasse mich offenbar auch etwas mitreissen, Entschuldigung, ich vergass unsere ... Nettiquette.

Hubert sagte: "Nettiquetten gibt es vor allem in Foren und Listen, also eben dort, wo mehrere Menschen zusammen kommunizieren. Die meisten Nettiqetten sagen, dass man sich nicht gegenseitig beleidigen soll, weil das natürlich oft passiert, wenn wildfremde Menschen miteinander sprechen, aber hinter ihren Computer versteckt sind. Wir könnten ja vielleicht einmal eine solche Liste zusammen anschauen und schauen, was hier anders ist. Ich bringe nächstes Mal eine mit. Jetzt habe ich mehr an das Prinzip der Sprechregelung gedacht, das eben schon in den Konversationssalons verwendet wurde und dort wohl einen ähnlichen Sinn gehabt hat wie hier. Das habe ich ja schon erzählt. Jetzt habe ich realisiert, dass genau in dieser Zeit auch die Konversationslexikon entstanden sind, Diderots und d'Alemberts Encyclopédie. Das ist die Wikipedia des Mittelalters, übrigens auch alles zusammengestohlene Texte von beliebigen Autoren, ein wildes Durcheinander, eben wie die Wikipedia. Und ein Lexikon ist ja immer eine Art Hypertext, weil viele Wörter als Stichwörter auf andere Einträge verweisen. Das ist mir jetzt in den Sinn gekommen, weil Rolf davon gesprochen hat. Wenn ich ein bisschen spekulieren darf, wie wollten uns ja ohnehin Geschichten erzählen, war es in des Salons so wie hier, es wurde über Gott und die Welt gesprochen, und dabei entstand das Bedürfnis, das angesammelte Wissen etwas aufzuschreiben. Ich finde das eine schöne Geschichte, die wir wahr machen könnten. Wir könnten zusammen ein Dialogwiki schreiben. Das wäre dann ein schriftlicher Dialog."

Ich sagte: "Ja, das ist eine schöne Idee. Ich habe jetzt noch nicht so weit gedacht, aber ich finde die Idee richtig gut. Ich habe vor allem noch nicht so praktisch gedacht, nicht ans Machen. Ich habe ja schon eine Seite zu unserem Dialog eingerichtet, und dort gibt es auch schon etwas Text. Ich dachte an das Internet überhaupt, dass eben einen Buffettcharakter hat, weil man nicht weiss, zu wem man spricht und weil dort auch keine Zweigespräche und keine Fragen möglich sind. Jeder stelt seine Sachen einfach hin, sozusagen in die Mite. Mir scheint jetzt, dass die Erfinder des Dialoges weniger eine Antidiskussion als das Internet im Kopf hatten. Oder wohl beides und noch mehr."


 
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Heidi sagte: "Ich muss es einfach nochmals sagen. Ich kann mich hier nicht orientieren. Für mich hat dieser Dialog auch etwas von einer Konversation, es ist alles sehr interessant und dann gleich wieder weg. Ich erlebe keine Entwicklung. Wir fangen jedesmal vorne an. Vielleicht bin ich selbst schuld, weil ich ein schlechtes Gedächtnis habe, aber die vielen guten Ansätze, die ich hier schon gehört habe, haben sich weitgehend verflüchtigt."

Peter sagte: "Das ist eine logische Folge davon, wie wir diesen Dialog führen. Wenn wir kein Thema haben und keine Sache ausdiskutieren, kann kein Wissen entstehen. Das ist ja das, was ich die ganze Zeit über betone."

Heidi sagte: "Wir haben sehr wohl ein Thema. Ich meine, ich höre fast ausschliesslich ein Thema. Es geht hier, also für mich, immer um den Dialog. Und wir haben schon ganz viele Idee zusammengetragen, als letztes gerade, dass der Dialog mit dem Internet verwandt sein könnte. Es ist nur so, dass ich keine Ordnung, kein Inhaltsverzeichnis herstellen kann."

Elmar sagte: "Vielleicht ist das ein wesentlicher Aspekt des Dialoges. Jemand hat gesagt, dass wir kein Thema haben, damit jeder immer über das sprechen kann, was ihm wichtig ist. Es könnte aber auch sein, dass wir kein Thema haben, damit wir nicht so rasch zu einem kleinen Wissen über eine kleine Sache kommen, sondern die Komplexität etwas erleben, die sich daraus ergibt, dass alles mit allem zusammenhängt. Meine Gedanken hängen immer noch bei der Wahrheit und der Realität, und da wir vor kuzem noch diese Thema hatten, muss ein Zusammenhang mit dem jetztigen Thema bestehen. Wir sind doch nathlos von dort hierher gekommen."

Peter sagte: "So nathlos war das nicht, es war nur so nathlos, wie wir das Thema ohnehin alle fünf Minuten wechseln."

Hubert sagte: "Ja, das sehe ich auch so, nur mich stört das nicht. Ueberhaupt nicht. Im Gegenteil. Mir gefällt diese thematische Offenheit, ich finde sie kreativ. Ich glaube, dass wir unbewusst schon ein Wissen entwickeln, aber eben kein lineares. Es ist eben eher eine Hypertext als ein lineares Buch mit einem Inhaltsverzeichnis. Das Internet hat ja auch kein Inhaltsverzeichnis. Das ist eben ein neues Denken."


 
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Renate schlug auf die Klangschale. Sie wartete lange über das Verschwinden des Klanges hinaus und sagte dann: "Jetzt habe ich die Klangschale so gebraucht, wie ich sie mir gerne vorstelle, nämlich als materielle Erinnerung daran, dass wir den Dialog üben wollen. Jetzt gerade kommt es mir so vor, dass wir eine sehr interessante Diskussion führen. Wir erzählen uns, wie das Internet wirklich ist. Wir streiten zwar nicht, weil wir offenbar gleicher Meinung sind, aber wir sprechen über die Wirklichkeit .."

Peter sagte ganz laut: "Ja."

Renate fuhr fort: "Ich glaube, dass wir sorgfälltiger formulieren könnten. Ich will dieses Thema nicht verlassen, ich dachte nur gerade an unsere Regeln. Ich sehe ein, dass wir den Sprechstab nicht wirklich brauchen, aber die Verlangsammung, die wir mit dem Sprechstab erreichen, ist wichtig. Deshalb habe ich jetzt die Klangschale benutzt. Wir würden auch die Klangschale nicht brauchen, aber wir brauchen die Besinnung und die gegenseitige Beobachtung. Ich glaube, wir gleiten vor allem dort unbewusst oder unbemerkt in eine Diskussion, wo wir anfänglich gleicher Meinung sind. Es stört dann eben niemanden, wenn jemand sagt, dass etwas so oder so ist. Aber das sollte uns alle immer stören, wenn wir den Dialog üben oder ausüben .."

Peter unterbrach Renate wieder ziemlich laut: "Ja. Du sagst uns, was wir alles tun sollten, damit kein Gespräch entsteht."

Lisa sagte zu Peter: "Peter, jetzt hör doch endlich auf. Merkst Du nicht, dass genau Du jedes Gespräch verhinderst, indem Du das allen immer vorwirfst, die sich um den Dialog kümmern. Renate wollte etwas sagen und Du hast sie unterbrochen. Du reklamierst, weil sie nicht das sagt, was Dir gerade passt. Lass doch einfach alle beitragen, was sie beitragen. Sie stelen e aufs Buffet, nicht in Deinen Teller." Sie wandete sich zu Renate: "Ich finde, Du hast absolut recht. Aeh .., das sollte ich eben gar nicht sagen, weil es unverschämt ist, jemandem Recht zu geben. Ich wollte sagen, dass ich genau dasselbe sagen würde wie Du, wie recht auch immer. Mir gefällt aber Deine Formulierung auch nicht ganz, wenn Du sagst, was wir sollten, anstatt was Dir gefällt. Ich glaube, das ist eben der Sinn der ich-Regel. Ich kann sagen, was ich sollte."

Peter sagte: "Ja, genau. Wenn wir uns darauf einigen könnten, dass jeder nur sagt, was er selbst sagen sollte, dann könnte ich sagen, dass ich, wenn möglich, wissenschaftlich gesichertes Wissen mitteilen sollte. Und das wäre dann eben leider doch Wissen über die Wirklichkeit. Oder wenn ich es vorsichtiger gemäss dem Wissenschaftstheoretiker Karl Popper formuliere, wäre es rationales Wissen, dass der Wirklichkeit, so weit wir sie kennen, nicht widerspricht."


 
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Heidi sagte: "Ich weiss gar nicht mehr, worum es hier geht. "


 
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Dialog als Kunst

------------------An den Wänden hingen Bilder, sonst war der etwa fünfzig Quadratmeter grosse Raum leer. Elmar hatte etwa zwanzig Stühle in einen Kreis gestellt und Renate brachte ihre Dialogutensilien wieder mit und legte sie in die Mitte des Kreises. Elmar sagte laut, weil die meisten noch vor den Bildern standen: "Lasst uns anfangen. Wenn ihr wollt, kann ich später noch etwas über die aktuelle Ausstellung sagen." Als wir im Kreis sassen, sagte Elmar: "Wie ihr seht, haben wir die Galerie von Timo Roth bekommen. Ich finde das einen sehr passenden Ort für einen Dialog. Timo sagte zu, dass wir uns einmal pro Monat hier treffen können, natürlich haben seine eigenen Veranstaltungen bei Terminkollisonen vorrang. Vernissagen sind oft am Abend, aber das gibt es ja auch nicht so oft. Also ich freue mich, dass wir unseren Dialog in einem so wertvollen Raum mitten in der Kunst üben dürfen." ----------------

Wir sassen abends in einer kleinen Kunstgalerie, die uns als Raum für unsere Dialog-Veranstaltungen zur Verfügung gestellt wurde. An den Wänden hingen mit Spotlicht beleuchtete Bilder, Kunst. Obwohl drei neue Leute dabei waren, hatte ich keine Erläuterungen zu unserem Dialogverfahren geben, ich sagte nur, dass wir im Dialog ein paar Prinzipien beachten, die unterwegs ohnehin zur Sprache kommen würden. Dann sagte ich: "Man kann sich hier so benehmen, wie wenn man als Gast in eine Kultur kommt, von welcher man noch nicht recht weiss, welche Regeln gelten. Sie könte ganz fremd sein und trotzdem vertraut erscheinen, oder umgekehrt. Ich habe schon an einigen Dialogen teilgenommen, aber ich komme trotzdem jedesmal mit der Vorstellung, ich würde eine mir unbekannte Kultur treffen. In den Einladungen zum Dialog schreibe ich, dass der Dialog keine Voraussetzungen macht. Ich meine damit, dass man diese Kultur überhaupt nicht kennen muss, ich maine aber nicht, dass man gar keine Kultur kennen müsste. Immerhin muss man unsere Spache sprechen, und damit hat man sich vielleicht schon allerhand eingehandelt, was man Kultur nennen könnte. In unserem Dialog geht es in gewisser Hinsicht um diese Kultur. Man kann sich hier einleben, das heisst, man kann sich hier nicht nur assimilieren wie sogenannte Gastarbeiter. Man kann hier die Kultur mitbestimmen, weil sie nicht vorausgesetzt ist, sondern von uns, auch in unseren Sprachen, mitgebracht wird."

Längere Zeit sprach niemand. Dann sagte Dieter: "Ich bin zum ersten Mal hier. Ich nehme aber an, dass es so etwas wie eine minimale Kultur schon gibt, weil ihr euch ja nicht zum erste Mal trefft. Und ich bi ja zu einem Dialog gekommen und nicht in die Wüste gefahren. Vielleicht kannst du ja ein paar Worte über den Dialog sagen, damit die Neuen nicht ganz fremd sind."


 
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Herbert sagte: "Natürlich ist diese Dialoggeschichte für mich noch sehr neu, ich bin ja erst zum zweiten Mal hier. Ich erzähle euch deshalb, wie ich mir den Dialog jetzt vorstelle, nachdem ich eben schon einmal hier war. Vielleicht seht ihr alles anders oder ihr habt für das gleiche andere Geschichten." Er schaute alle im Kreis kurz an und fing dann an: "Also, im besten Fall gelingt es mir im Dialog jede Aeusserung als Kunst zu begreifen. Ich meine, dass jede Aeusserung wie eine Performance, eine Vorstellung, also wie ein Tanz, eine Skulptur oder wie hier", er zeigte auf die Bilder, "ein Bild ist. Wir sid ja nicht zufällig in einer Galerie. Sagen wir, ich hätte ein Bild gemalt und man würde mich fragen, was willst du mit diesem Kunstwerk sagen. Dann würde ich auf das Kunstwerk zeigen und sagen, genau das. Könnte ich nämlich in Worten sagen, was ich damit sagen wollte, hätte ich es gleich in Worten gesagt, also gar kein Bild gemalt. Nun gibt es eine spezielle Kunst, ich nenne sie mal Literatur, aber diese Bezeichnung ist hier weder richtig noch wichtig. Das spezielle, um was es mir geht, ist, dass in dieser Kunst schon Worte verwendet werden - es ist Kunst dia logos, das heisst Kunst durch das Wort. Man kann aber auch dann, wie bei anderen Kunstwerken, gefragt werden, was man mit einer Geschichte oder mit einem Gedicht sagen wolle. Wenn man mich fragen würde, was willst du mit diesem Roman oder mit diesem Gedicht sagen, würde ich auf den Roman oder das Gedicht zeigen und sagen, genau das." Er machte eine längere Pause, bevor er weiterfuhr: "Immer wenn ich - wie jetzt - etwas bewusst sage, stelle ich mir also vor, es sei eine Art Literatur. Wenn mich dann jemand fragt - was hier ja verboten ist -, was willst du damit sagen, würde ich deshalb am liebsten immer sagen, eben das. Ich mache aber damit oft schlechte Erfahrungen. Ich glaube, viele Leute finden das unanständig, arrogant oder blöd. Und ich finde irgendwie blöd, dass sie es blöd finden. Sie nehmen mich dann nicht als Künstler wahr, und was ich sage, nicht als Kunst. Als Künstler könnte ich einfach sagen, dass ich das ausdrücken wollte, was ich ausgedrückt habe. Oder die meisten Menschen würden sich gar nicht erst trauen zu fragen, was es bedeutet, wenn sie das, was ich sage, als Kunst wahrnehmen würden. Ich stelle mir das als riesiges Privileg vor, wenn man nie erklären muss, was man gemeint hat. So definiere ich Kunst; ich meine jetzt, für diesen Zusammenhang. Und jetzt spreche ich eben davon, dass ich gerne hätte, wenn es wenigstens mir gelingen würde, im Dialog immer nur Künstler zu sehen - auch wenn die andern mich nicht als Künstler sehen."

Erika sagte: "Das finde ich eine wunderbare Idee. Du siehst mich jetzt immer als Künstlerin und alles was ich sage, ist Prosa." Sie lacht und sagte: "Genau wie bei Molliere." Dann fuhr sie weiter: "Ich habe seit einiger Zeit ein Problem, das sehr gut dazu passt, man könnte sage komplementär. Mir sagte kürzlich eine Freundin, dass ich oft, wenn ich etwas erzählt habe, noch frage, ob ich verstanden wurde. Also ich sage dann oft, du weisst doch, wie ich das meine, oder. Oder, verstehst du, wie ich das meine. Also ein stückweit ist das einfach so eine Floskel, die ich anhänge, aber meine Freudin hat mich darauf gebracht, dass in dieser Floskel etwas steckt. Und das beschäftigt mich jetzt. Und es fällt mir auf, wie oft auch andere Menschen das sagen. Wenn ich es nicht als Floskel nehme, und das mache ich jetzt eben nicht mehr, höre ich, dass irgendwie unklar ist, was gesagt wurde. Oder umgekehrt, dass klar ist, was gesagt wurde, obwohl es nicht die richtigen Worte dafür waren. Ihr versteht doch, wie ich das jetzt meine, oder." Sie lachte und wir lachten auch.

Robert sagte: "Ich will es in meinen Worten versuchen: Ich merke oft, dass ich in einem Gespräch auf ein Verständnis hoffe, das nicht direkt von meiner Formulierung abhängig ist, sondern mehr situativ oder von Wissen meiner Gesprächspartner. Wenn ich dann sage, du weisst doch, was ich meine, hoffe ich ein wenig, dass der andere sagt, was ich meinte, aber nicht recht sagen konnte. Das ist doch eigentlich Dialog par excellence. Der andere hilft mir zu sagen, was ich sagen möchte."


 
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Renate sagte: "Ja, mir geht es jedenfalls oft so. Ich merke dann erst nachher, was ich eigentlich sagen wollte. Wenn ich zuhause sage, du weisst doch, wie ich es meine, fragt mich mein Mann jedesmal, weisst denn du, was du meinst. Das ist nicht böse gemeint, sondern so eine Art Sprachspiel, dass aber schon einen tieferen Sinn hat. der mir jetzt bewusst wir. Ich werde künftig zugeben, dass ich es noch nicht genau weiss und ihn bitten, mir zu helfen. Da wird er vielleicht staunen und vielleicht wird er mir dann helfen. Ich finde das auch wunderbar und dialogisch, wenn der andere mir auf diese Weise sagt, was ich sagen wollte."

Elmar sagte: "Ja, das ist vielleicht das wichtigste am Dialog. Im Dialog kann man Formulierungen finden, die man alleine nicht gefunden hätte. Und diese Formulierungen helfen dann oder ermöglichen überhaupt erst, zu verstehen, was man sagen wollte. Ich glaube, das bezeichnet David Bohm das als kollektives Denken. Wenn ich dieses Nachfragen als Floskel auffasse, was ich gemeinhin tue, verhindert die Floskel einen Dialog."

Ich sagte: "Ja genau, nicht die Floskel verhindert den Dialog, sondern dass ich etwas als Floskel auffasse. Aber wenn mir umgekehrt jemand sagt, was ich eigentlich sagen wollte, finde ich das meistens eine Zumutung statt einer dialogischen Chance. Ich kann dann gar nicht recht zuhören, weil meine Emotionen durchgehen. Ich müsste dann nur in einer dialogischen Haltung sein und die Chance erkennen, dass etwas klarer werden kann, und dass ich deswegen kein Trottel bin, der sich verteidigen muss."

Herbert sagte: "Klar, dank euch sehe ich jetzt auch, was alles zu meiner Dialogkunstgeschichte gehört. Ich sage ja oft etwas, bevor ich weiss, was ich genau sagen will. Es ist dann so eine Art Probehandeln. Wenn ich es gesagt habe, merke ich besser, was ich eigentlich nicht meinte und was ich eher sagen wollte. Es ist vielleicht wie ein Künstler, der Skizzen macht und noch nicht genau weiss, wie sein Werk aussehen soll."

Erika sagte: "Das finde ich jetzt noch viel schöner. Wenn ich hier etwas sage, ist es ein Kunstwerk, und falls es doch noch kein richtiges Kunstwerk ist, ist es eine Skizze für ein Kunstwerk. Mit euch spreche ich richtig gerne, ihr macht etwas Wertvolles aus mir." Sie lachte wieder und sagte: "Dazu fällt mir ein Witz ein, den ihr sicher schon kennt. Der Patient, der vor Hauskatzen grosse Angst hatte, sagt zu seinem Therapeuten nach etlichen Sitzungen: 'ich habe jetzt begriffen, dass ich vor Katzen keine Angst haben muss, weil ich ja keine Maus bin, jetzt frage ich mich nur, ob die Katzen das auch verstanden haben.' Also ich habe jetzt begriffen, dass ich eine Künstlerin bin, wenn ich etwas sage, ich frage mich nur noch ein bisschen, ob das die andern auch sehen können".

Herbert sagte lachend: "Na klar sehe ich, dass du eine Künstlerin bist. Aber im Ernst, es geht mir natürlich nicht darum, dass andere sehen, dass ich ein Künstler bin, es geht mir um die grosse Kunst, möglichst überall Kunstwerke, Performance wahrzunehmen. Und ich meine damit auch nicht, dass alles, was gesagt wird, Kunst ist, es geht mehr um meine Haltung. Die sollte immer so sein, als ob ich vor einem Kunstwerk stehen würde. Ich glaube, das ist Kunst und das würde mich zum Künstler machen. Ich habe ja gesagt, dass ich hier eine etwas spezielle Kunst im Auge habe. Es ist ein etwas anderer Kunstbegriff, mehr Passion als Aktion. Aber es geht hier ja auch um eine etwas andere Kunst, oder".


 
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Erika wiederholte: "Oder" und lachte wieder. "Möchtest du Zustimmung oder gar eine Formulierung, die noch besser zu dem passt, was du meinst?"

Herbert sagte nichts. Ich sagte: "Als ich vorher in die Galerie reingekommen bin, ich war ein bisschen früher da, habe ich die Bilder etwas angeschaut. Sie gefallen mir nicht. Ja, ich weiss, dass ich im Dialog und natürlich auch sonst nicht vorschnell bewerten soll. Aber trotzdem, die Bilder sprechen mich einfach nicht an. Dann ist für mich die Frage nicht weit weg, warum das Kunst sein soll, und die Antwort liegt auch schon fast auf der Hand. Jetzt komme ich in Gedanken nochmals rein und schaue die Bilder an. Aber jetzt schaue ich im Sinne eines Dialoges, in welchem ich, wie Herbert vorgeschlagen hat, alle Bilder hier als Aeusserungen und deshalb als Kunstwerke auffasse. Dabei habe ich ein komisches Gefühl. Ich fühle mich irgendwie gestört. Ich kann mich nicht dafür entscheiden, dass diese Bilder Kunst sein sollen, weil sie schon vorher, unabhängig von mir, Kunst sind oder als Kunst auftreten. Wisst ihr, was ich meine."

Renate sagte: "Weisst du denn, was du meinst? Ich finde das eine interessante Idee, jede Aeusserung als Kunst zu sehen. Dann sehe ich auch jedes Bild als Aeusserung und als Kunst. Aber es stimmt, das wird mir hier wie weggenommen, wie nicht erlaubt. Es ist schon entschieden. Und das bewirkt jetzt bei mir eigenartigerweise eine Art Gegenteil, ein Umschlagen. Wenn ich diese Bilder anschaue, habe ich das Gefühl, dass sie keine Kunst sind, weil sie durch ihr Hierhängen behaupten, Kunst zu sein. Fast würde ich fragen, was der Maler wohl damit sagen wollte. Aber dann merke ich, dass wir hier ja nicht bei einem Maler hausen, sondern in einer Galerie. Hier sind die Bilder ja gar keine Kunstwerke, sondern Kunstwaren, die auf Käufer warten. Ich bin ja nicht im Museum, hier sollte ich mir überlegen, welches der Bilder ich kaufen möchte." Dann fügte sie an: "Im Museum ist es eigentlich auch so. Dort ist die Sache auch schon entschieden. Kunst wird nicht als Verhältnis begriffen, sondern als Sache."

Herbert sagte: "Ich schlage vor, dass wir uns die Bilder zusammen anschauen und unsere Kunstvorstellungen hier am konkreten Beispiel etwas erproben. Es ist ja auch ein Privileg, dass wir unseren Dialog in einer Galerie führen können. Wir sollten das nutzen."

Maya sagte: "Ich finde diese Idee nicht sehr gut. Mir scheint sie ziemlich intellektuell und ich kann mir nicht vorstellen, dass wir dabei viel gewinnen könnten. Nach dem schon geäusserten Missbehagen können doch diese Waren-Bilder, die mich übrigens sehr ansprechen, nur noch mehr Schaden nehmen. Mir gefällt die Idee von Herbert, den Dialog als Kunst aufzufassen, lasst uns doch dort weiterfahren anstatt in eine doofe Kunstkritik zu verfallen."


 
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Peter sagte: "Ich bin eigentlich auch skeptisch. Aber wir könnten ja vereinbaren, dass wir höchstens zehn Minuten über die Bilder sprechen und dabei aufpassen, wie wir sprechen".

Maya sagte: "Ich bin nicht skeptisch, ich bin ziemlich sicher, dass nichts gutes rauskommen kann. Kunst ist eine relativ heikle Sache und die Gespräche darüber sind meistens gemeine Gemeinplätze.

Renate sagte: "Im Dialog versuche ich immer nicht skeptisch und nicht sicher zu sein. So wie Herbert alles für Kunst nimmt, nehme ich alles für wahr und nichts für sicher. Wir könnten im Dialog gut über diese Bilder oder über Kunst sprechen. Im Dialog kommen ja keine Gemeinplätze vor, weil wir im Dialog immer über uns sprechen, und wir ja nicht gemein sind." Nach etwas zögern fügte sie an: "Natürlich kann das, was ich sage, einem Gemeinplatz entsprechen, aber ich meine dann einen Platz nicht für alle, sondern nur für mich."

Peter sagte: "Genau. Im Dialog gibt es keine heiklen Sachen. Es kommt ja nur darauf an, wie wir darüber sprechen."

Maya sagte: "Also gut. Ich habe Herbert so verstanden: die Aeusserungen sind nicht Kunst oder Nichtkunst, sondern ich entscheide mich, wie ich die Aeusserungen wahrnehme. Das ist ja eine ziemlich extreme Position, die Kunst dem persönlichen Belieben anheimstellt. Aber gut, machen wir ein Experiment. Also machen wir das jetzt auch mit diesen Bildern so. Wir vergessen, dass sie in einer Galerie hängen und in Bilderrahmen stecken und Käuferinnen suchen. Wir nehmen sie ohne Vorurteil einfach wie jede Aeusserung im Dialog als Kunst wahr. Damit machen wir eigentlich eine Dialogübung. Ich sage euch, was ich mit den Kindern mache, die in unser Kunsthaus kommen. Uebrigens scheint mir, dass die Kinder genau den Vorteil haben, dass sie noch kein verdrehtes Kunstverständnis mitbringen. Ich lasse die Kinder erzählen, was sie sehen. Sie müssen ganz genau beobachten und dürfen nicht interpretieren. Das ist doch auch ziemlich das, was wir hier im Dialog versuchen, oder? Oh, Ich will das 'oder' wieder streichen. So könnte ich mir vorstellen, dass wir von den Bildern etwas haben könnten, etwas dialogisches."


 
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Peter sagte: "Ich finde das didaktisch schon gut, was Du mit den Kindern machst, aber ich finde nicht, dass wir uns hier daran halten sollten. Denn wenn Kinder in einen Museumskurs kommen, kommen sie in die Schule und sollen etwas lernen. Wir dagegen sind hier gerade nicht in der Schule. Ich finde für den Dialog schon kritisch, dass wir jetzt über etwas bestimmtes sprechen müssen, aber tödlich wäre doch, wenn wir auch noch vorgeschrieben bekämen, wie wir mit Kunstwerken umgehen müssen. Ich finde, dass nur unsere Dialogregeln gelten sollten, also keine Vorschriften darüber, wie wir uns der Kunst nähern sollten."

Es war eine Zeitlang ruhig, dann sagte Peter: "Ich wollte den Dialog über diese Bilder nicht verhindern. Ich zeige mal guten Willen und fange an. Zuerst sehe ich ..". Er machte eine Pause. Dann sagte er: "Nein, zuerst sehe ich jetzt, dass ich es gar nicht schaffe, so zu tun, als wäre ich hier nicht in einer Galerie. Mir kommt nur Gerede über Kunst in den Sinn. Ich wüsste gar nicht, wie ich über diese Bilder anders sprechen sollte. Bei mir hat die Schule, die mir sagte, was Kunst ist und wie man über Kunst spricht, offenbar Erfolg gehabt. Aber ich will ja nicht über das Erziehungssystem sprechen, sondern über diese Bilder hier."

Renate sagte: "Sag doch einfach, was dir dazu einfällt. Es ist doch egal, woher Du dein Wissen hast. Du hast es ja einfach. Und wenn wir alle sagen, was wir wissen, erscheint darin unsere Kultur, die wir uns in Dialog ja bewusst machen wollen."

Peter sagte: "Also, ich wollte sagen, dass ich zuerst über die Technik des Malers staunte. Irgendwie spielt er mit einer kindlichen Zeichnerei. Es ist so eine Art Gekritzel, die irgendwie unbeholfen aussieht. Es ist fast, wie wenn ich die Bilder gemacht hätte, nur wäre es bei mir einfach das, was ich kann, und nicht eine gewählte Technik, wie ich sie hier eigenartigerweise unterstelle. Ich frage mich, um in der Analogie zum Dialog zu bleiben, mit welchen Regeln die Bilder wohl gemalt wurden. Sie sehen ja alle ziemlich ähnlich aus - für mich jedenfalls."

Maya sagte: "Sie sind sogar extrem verschieden. Es sind alles sehr raffinierte Zitate. Ich erkenne in all diesen Bildern Interpretationen von grossen Werken. Es sind eigentlich keine Interpretationen, sondern eher Verfremdungen. Natürlich muss man die Originale aus den verschiedenen Epochen kennen, um sie zu erkennen, aber dann ... Ich finde, der Maler ist sich auch ziemlich sicher. Weder in den Bildertiteln noch im Katalog zur Ausstellung gibt es Hinweise."

Herbert sagte: "Jetzt verstehe ich, dass Dich die Bilder mehr ansprechen als mich. Du bringst einfach bessere Voraussetzungen mit. Der Künstler richtet sich offenbar nicht an Banausen. Ich erkenne nämlich auch jetzt nicht, was da zitiert wird. Aber ich gestehe gerne zu, dass das an mir liegt, nicht an den Bildern."

Peter sagte: "Ja, ich bin dann eben auch ein Banause. Das heisst, ich brauche jemanden, der mir die Bilder erklärt. Hier gilt einmal mehr nicht, dass ein Bild mehr sagte als tausend Worte. Diese Bilder würden für mich erst zu Bildern, nachdem ich sie erklärt bekommen habe. Aber das ist ja die Wortbedeutung von Banause. Ein Banause war bei den Griechen ein praktischer Mensch, der ohne Einsicht in die höheren Zusammenhänge lebt, einfach vorwärtslebt. Immerhin weiss ich, dass man verfremdendes Zitieren von berühmten Gemälden in jeder Kunstschule lernt, und dass das unabhängig vom Gelingen als Kunst gesehen werden kann."

Maya sagte: "Ich habe befürchtet, dass unser Gespräch eben so verläuft. Wir sprechen so nicht über diese Bilder, sondern darüber, wie wir uns Kunst in Form von Institutionen vorstellen. Und dieses Wissen haben wir logischerweise in einer Schule gelernt. Das meinte ich mit Allgemeinplätzen. Wir könnten schauen, was der Künstler hier gemacht hat. Wir könnten seine Technik und seine Zitierweise rekonstruieren. Ich werde mich gerne zurückhalten, damit das nicht auch eine Schule wird. Ihr wisst, das ist eben mein Beruf."

Renate sagte: "Also ich sehe nichts, was dem Dialog widerspricht, wenn jemand von einer Sache viel mehr weiss als die andern. Im Dialog sagen einfach alle, was sie sagen und es gibt ja kaum etwas, worüber alle gleich viel wissen. Ich fände es eher gegen den Dialog, wenn jemand sein Wissen zurückhalten würde."

Maya sagte: "Also. Diese Bilder sind offensichtlich Zitate, ich kann euch von jedem dieser Bilder sagen, was es zitiert. Aber wir sollten vielleicht über das sprechen, was jedem ins Auge springt, anstatt ein Wissen über Kunstgeschichte vorauszusetzen."

Erika sagte: "Ja, das finde ich eigentlich auch, obwohl oder weil ich doch ohnehin nur über das sprechen kann, was ich wahrnehmen kann. Was sehe ich, wenn ich diese Bilder anschaue? Also mir ist es auch so gegangen, dass ich zunächst ein Gekritzel gesehen habe. Dann habe ich aber auch gleich gesehen, dass ein Prinzip dahinter steckt. Mir ist aufgefallen, dass ich dazu mehre Bilder anschauen musste. Hätte ich nur eines gesehen, ich weiss nicht. Wenn im Dialog jemand etwas sagt, kommt mir das oft auch wie ein Gekritzel vor. Ich weiss dann nicht, ob er oder sie sich das überlegt hat oder nicht. Und normalerweise kann ich es nicht so leicht überprüfen wie hier, wo mehrere Gekritzel nebeneinander hängen. Darin erkenne ich die Wichtigkeit, im Dialog noch ausgeprägter, mit einem Urteil zuzuwarten. Und dann will ich noch sagen, dass mich schon interessieren würde, wie hier was zitiert wurde, weil es für mich auch nicht so offensichtlich ist. Vielleicht kann mir jemand einen Tip geben, so dass ich dann selbst noch etwas nachdenken oder nachspüren kann. Ich brauche nicht die ganze Lösung, aber eine Idee."

Niemand antwortete. Dann sagte Maya: "Ich bleibe nach dem Dialog sehr gerne noch etwas hier mit dir und mit allen, die an dieser Kunst interessiert sind. Aber ich will jetzt im Dialog nicht argumentieren oder dozieren. Im Gegenteil. Ich wollte ja im Dialog nicht über diese Bilder sprechen und jetzt ist mir eigentlich bewusst geworden, warum. Das war mir nicht so bewusst, aber es hängt mit dem Thema zusammen. Die Abmachung über diese Bilder zu sprechen, engt mich jetzt sehr ein. Ich schlage vor, dass wir uns wieder an unsere Dialogregeln halten, dass wir also nicht über diese Bilder sprechen müssen, weil wir gemäss den Regeln kein Thema haben. Wer will, kann es tun, aber ich will mich nicht drängen lassen, jetzt nicht."

Eine längere Zeit sagte niemand etwas, dann sagte Herbert: "Ja, vielleicht war meine Idee nicht so gut. Da wir eigens eine Regel haben, die ein Thema verbietet, sollten wir vielleicht wirklich kein Thema vereinbaren. Aber andrerseits stelle ich jetzt fest, dass mir die Bilder immer sympathischer werden. Sie fangen an, mich zu interessieren, was ja vorher nicht der Fall war."

Dieter, der Neue, sagte an mich gerichtet: "Du hast ja am Anfang gesagt, dass hier die Prizipien des Dialoges zur Sprache kommen werden. Du hast damit so offensichtlich recht gehabt, dass ich annehmen muss, dass das jedesmal passiert. Ich habe nun schon einiges gehört, ich kann mir aber keinen Reim machen, zumal ich ja auch noch der Kunstdiskussion folgen muss. Was ich bisher über den Dialog gehört habe, finde ich sogar ziemlich verwirrend. Um nur das letzte zu nennen, wonach ein Dialog kein Thema haben soll. Gehört es denn auch mit zum Dialog, dass man keine Einführung bekommt und alles selber merken muss?"

Elmar antwortete, was Dieter zu überraschen schien: "Als ich des erste Mal hier war, war es ganz anders. Es gab eine Einführung. Daraus schliesse ich, dass diese Frage nicht entschieden ist. Manchmal gibt es eine Einführung und manchmal nicht. Ich will dazu noch etwas sagen. Das, was wir jetzt gerade machen, ist für mich eher die bessere Einführung als jene, dich ich bekommen habe. Für mich wird heute deutlicher, dass wir Formen suchen, die uns passen. Als ich da erste Mal hier war, hatte ich das Gefühl, dass der Dialog etwas sei, was man in Form von Regeln dozieren könne. Es war ein bisschen wie in der Schule."

Dieter sagte: "Es wäre ja auch möglich, dass du jetzt mehr verstehst, weil du schon mehr weisst, ähnlich wie bei diesen Bildern. Vielleicht weisst du, worauf du achten musst, weil du in deiner Einführung ein Grundwissen bekommen hast. Aber ich will die Veranstaltung nicht stören, ich meinte nur."

Elmar sagte: "Man kann den Dialog nicht stören. Oder nur, wenn man das bewusst tun will. Man kann ihn nicht unwissentlich stören. Im Dialog sage ich einfach, was für mich Sinn macht. Du kannst also ohne weiteres danach fragen, warum du keine Einführung bekommst. Das stört hier nicht. Ich sage dir noch eine Regel, die ich in meiner Einführung hörte. Wir sprechen immer in die Mitte des Kreises und nicht zu einzelnen Personen. Es ist ein bisschen wie bei der Kunst. Die Bilder hier wurden nicht für eine bestimmte Person aufgehängt, sondern für all jene, die die Bilder sehen wollen. Der Künstler oder der Galerist wissen nicht, wer die Bilder sehen will. Sie geben sie einfach in die Mitte. Natürlich hoffen sie, dass viele Leute kommen und sich dafür interessieren, aber sie richten sich nicht an eine Person. Wenn ich im Dialog etwas sage, ist es auch so. Ich sage es in die Mitte, weil ich nicht wissen kann, wer sich dafür interessiert und wer nicht. Ich hoffe natürlich auch, dass sich alle oder wenigstens viele dafür interessieren. Und jetzt, wo ich das sage, merke ich auch, dass diese Kunstmetapher doch ziemlich gut funktioniert. Sie passt mir jedenfalls auch in dieser Richtung."

Dieter nickte, aber er sagte nichts mehr. Dann fügt Elmar noch an: "Ach ja, wegen dem schon mehr wissen. Mir hat sehr eingeleuchtet, dass ich mein Wissen über diese Veranstaltung zu hause lassen sollte, dass ich hier also jedes Mal zum ersten Mal kommen sollte, als Anfänger. Und das ist ja auch eine ganz grosse Kunst."

Ich sagte: "Ich werde das nächste Mal mit einem anderen Bewusstsein in diese Kunstgalerie eintreten, sozusagen einen neuen Anfang machen. Bisher habe ich eigentlich hier nicht viel Kunst wahrgenommen, aber das wird künftig ganz anders sein, weil ich jetzt nicht mehr mit der Vorstellung kommen muss, hier würden Kunstwerke verkauft. Ich bin heute eine Vorstellung losgeworden, die mich behindert hat, die verhindert hat, dass ich hier Kunst wahrnehmen konnte. Ihr habt mir zu einer neuen Perspektive verholfen. Nicht nur in bezug auf die Bilder hier, sondern genereller. Alles als Kunst aufzufassen ist schon eine spezielle Sicht."

Erika sagte: "Ja, das ist eine wunderbare Idee. Aber - also ich will keine Einwände machen - ich will nur sagen, dass es mir sehr schwer fällt, jetzt gerade, also hier in unserem Dialog alles als Kunst wahrzunehmen. Ich denke mal so an die letzten zehn oder zwanzig Sätze. Ich will niemandem zu nahe treten, ich will einfach sagen, dass es mir nicht gelingt, die Kunst zu sehen. Nicht einmal jetzt, wo ich es gerade bewusst versuche. Und da frage ich nich, wie ich dass draussen im richtigen Leben je schaffen sollte. Wir müssten unsere Sätze aufschreiben und an die Wand hängen und dann darüber sprechen, wie wir es mit diesen Bildern getan haben, damit unsere Sätze Kunst würden."

Maya sagte: "Ich sehe den Sinn eines Kunsthauses darin, dass man sich dort die Musse nimmt, sich auf die Kunst einzulassen. Es geht nicht darum, dass dort Kunstwerke sind - was ist schon ein Kunstwerk - es geht darum, dass es einen Ort gibt, wo ich Kunst bewusst wahrnehmen kann. Also ich würde sicher nicht im Kunsthaus arbeiten, wenn ich die Vorstellung hätte, dass dort Kunstwerke gesammelt würden. Es geht um den Prozess der Kunst, um die Kommunikation. Ein Kunsthaus ist kein Gestell für Bilderwaren, sondern ein Ort, wo ich mich in einen Dialog mit der Kunst begebe. So erzähle ich es jedenfalls bei meinen Führungen. Aber ich muss wohl nochmals darüber nachdenken, warum das nur im Museum gehen sollte."

Erika sagte: "Das ist wirklich wunderbar, ich möchte auch einmal an einer deiner Führungen teilnehmen. In welchem Kunsthaus machst Du denn diese Führungen und für wen? Oh, darüber müssen wir nachher genauer sprechen, wenn du mir diese Bilder erklärst. Ich finde unsere Dialogrunde kann man auch so sehen. Wir kommen hierher, weil wir hier die Musse finden, uns mit der Kunst des Dialoges zu beschäftigen. Ich habe Kunsthäuser bisher eigentlich nicht so für mich wahrgenommen, ich dachte eher, dass dort die ganz grosse Kunst gezeigt würde. Ich habe nicht gemerkt, dass es um meine Musse geht.

Ernst sagte: "Das erinnert mich auch an die Kirche, ich meine an den Gottesdienst. Ich glaube ja immer an Gott, aber ich gehe am Sonntag in den Gottesdienst, um mich eine Stunde lang bewusst damit zu befassen. Dieser Dialog ist so etwas wie ein Gottesdienst oder eine Führung im Kunsthaus. Hier kann ich eine Stunde lang tun, was ich eigentlich immer tun sollte, hier kann ich wenigstens eine Stunde lang bewusst im Dialog sein."


 
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Peter sagte: "Ich habe es nicht so mit den Kirchen, aber mir fällt natürlich ein anderer Tempel der Muse ein, in der Wissenschaft. Die Bibliothek wird gemeinhin auch als ein grosses Büchergestell aufgefasst, in welchem die Bücher gestappelt werden wie Bilder im Museum. Eine Bibliothek ist aber so wenig ein Büchergestell, wie eine Discothek ein Schallplattenständer ist. Die Bibliothek ist eigentlich der Ort, wo Texte und deren Organisation diskursiv entwickelt werden. Die urspüngliche Bibliothek jedenfalls war als Vorläufer der Universität ein Ort des schriftlichen Dialoges, wo Musse sicher gefragt war. Also darüber könnte ich euch auch einen kleinen Vortrag halten. Ich finde sehr interessant, wie hier bei der Kunst angefangen einfach alles zum Dialog wird. Es scheint, die ganze Welt ist ein Dialog und alle gesellschaftlichen Einrichtungen wie Kirchen, Musen und Wisseschaften dienen nur dem Dialog."

Herbert sagte: "Meine Vorstellung ist oder war etwas bescheidener. Ich habe zunächst nur an die Kunst gedacht und eigentlich auch nicht an die Kunst, sondern eher an eine Art Metapher. Was ich mir wünsche, ist, dass ich im Dialog eine, ich sage mal, Kunsthaltung einnehmen kann, so dass ich allen Aeusserungen wie Kunstwerken begegnen kann. Also gerade unabhängig davon, ob sie nun Kunstwerke sind oder nicht. Jetzt habe ich durch euch bessere Worte gefunden, die mir klarer machen, was ich implizit gemeint habe, ohne es genau sagen zu können. Ich sehe jetzt die Kunst mit neuen Augen, weil ich zunächst den Dialog als Kunst gesehen habe. Und diese neue Sicht umfasst jetzt auch noch die Kirche und die Bibiothek und vermutlich noch mehr. Es geht mir jetzt darum, dass ich mich an bestimmten Orten einfinden kann, die mich in dem Sinne unterhalten, als sie mir bestimmte Haltungen wenn nicht ermöglichen, so doch leichter machen. In einer Kirche kann ich leichter beten, in einem Museum kann ich leichter Kunst sehen, und in dieser Veranstaltung kann ich den Dialog bewusster erleben. Ich muss Musse mitbringen und Respekt, ich muss verweilen und mich einlassen. Das ist, was ich jetzt im Dialog erkenne. Diese Veranstaltung hier ist ein Ort wie eine Kirche oder ein Kunsthaus, wo ich hinkomme, um bewusst wahrzunehmen, worum es mir geht." Nach einer Pause fuhr er fort: "Ich will natürlich nicht ausschliessen, dass der Dialog allgegenwärtig ist, in der Religion, in der Wissenschaft, in der Kunst, aber erkennen kann ich den Dialog bislang nur hier in diesem geschützten Raum. Draussen in der Wirklichkeit, also gerade in der Kirche, sehe ich noch sehr wenig vom Dialog."

Renate sagte: "Ich habe bisher in der sogenannten Wirklichkeit auch wenig von einem Dialog wahrgenommen. Aber das könnte sehr viel damit zu tun haben, dass ich weder bei einer Kirche noch bei einem Kunsthaus und schon gar nicht bei einer Bibliothek an den Dialog gedacht habe. Jetzt stelle ich mir vor, dass wirklich überall Dialoge zu finden sind, man muss sie nur erkennen können. Es ist wie bei diesen Bildern, man muss sie eben sehen können. Dazu fällt mir etwas typisches ein. Ich war einmal in den Dolomiten, da gibt es diese typischen Berge mit den riesigen Felswänden. Wir sassen unter einem dieser Berge mit einer senkrechten Wand von vermutlich drei- oder vierhundert Metern Höhe. Neben uns sassen zwei junge Männer mit Kletterausrüstungen und die überlegten sich, wo sie in dieser Wand hochklettern wollten. Ich hielt das für ein ganz unmögliches Unterfangen. Ich schaute die Wand an und konnte mir nicht vorstellen, wie ein Mensch dort raufkommen sollte. Dann entdeckte ich plötzlich mitten in der Wand kleine Figuren. Es waren offensichtlich Kletterer. Ich schaute ihnen fasziniert zu und dann schaute ich der Wand nach nach oben, um zu sehen, was sie noch vor sich hatten. Ein Stück weiter oben sah ich wieder zwei oder drei Bergsteiger. Dann etwas rechts von ihnen noch zwei, und dann noch drei und noch zwei und noch mehr und mehr. Die ganze Wand war voller Bergsteiger, es wimmelte nur so von ihnen. Aber weil ich mir nicht vorstellen konnte, dass man da hochklettern kann, habe ich sie einfach nicht gesehen. Und sobald ich die ersten gesehen hatte und somit wusste, dass es gibt, sah ich mehr und mehr von ihnen. Mit den Dialogen könnte es ähnlich sein. Ich gaube, sie finden massenweise statt, man muss sie nur wahrnehmen können. Hier übe ich meine Sensitivität, um draussen in der Welt die Dialoge wahrnehmen zu können."


 
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Herbert sagte: "Ich will nochmals auf meinen Versuch zurückkommen, mir selbst eine Einführung in den Dialog zu geben. Meine Absicht war, auszudrücken, was ich bisher verstanden habe. Mir ist bewusst, dass ich nicht genau weiss, was ich meine, aber indem ich anfange darüber zu sprechen, erhöhe ich die Chance, dass es mir klarer wird. Und indem ich es Euch erzähle, vergrösser ich diese Chance um ein vielfaches. Und mir ist jetzt klarer geworden, dass es nicht um Kunstwerke geht, sondern darum, wie ich den Aeusserungen der andern begegne. Das hat nichts damit zu tun, ob es Kunstwerke sind und auch nichts damit, was Kunstwerke überhaupt sind. Kunst ist für mich nur eine Metapher, die sich jetzt überdies umgekehrt hat. Museen und Galerien sind gewissermassen Orte, die mich einladen, das, was dort ist als Kunst zu sehen. Für mich spielt dabei keine Rolle, was dort ist. Mir geht es um den Unterschied in meiner Wahrnehmung, wenn ich etwas als Kunst betrachte. Einen Aspekt habe ich ja angesprochen. Ich frage dann nicht, was der Autor damit gemeint hat. Vielleicht können wir noch etwas deutlicher herausarbeiten, was die Vorstellung Kunst mit unserer Wahrnehmung macht. Das würde mich sehr interessieren."

Ich sagte: "Das finde ich auch eine spannende Frage. Man kann sie auch umkehren, um der Rezeptionsauffassung etwas zu entkommen. Anstatt der Galerie nehmen wir ein Atelier und fragen uns, was wir dort als Künstler etwa im Unterschied zu einem Kunsthandwerker tun. Vielleicht hilft uns das metaphorisch zu verstehen, was wir hier im Dialog tun. *** Sie stand auf und schaute demonstrativ auf ihre Uhr und sagte: "Ich würde diese Dialogveranstaltung gerne schliessen, es ist Zeit. Vielleicht können wir nächstes Mal darauf zurückkommen, oder ein anderes Mal. Ich würde gerne noch etwas über unsere Erfahrungen mit dem Dialog sprechen, sozusagen ein kleine check-out-Runde machen. Ich möchte, dass wir davor ein kurze Pause machen, damit uns der Unterschied zwischen dem Dialog und dem Auschecken bewusster wird." Sie stand auf und ging in den Raum, der hinter dem Ausstellungsraum lag. Lisa und Eva folgten ihr, die andern blieben sitzen.

* * *

Nach ein paar Minuten sagte Renate laut: "Bitte setzt euch nochmals, wir wollen eine kleine Rückschau halten." Es blieb eine zeitlang still, dann sagte Petra: "Ich bin das erste Mal hier. Für mich war es ziemlich schwierig, aber das ist wohl so, wenn man als Fremde in eine Gruppe kommt, deren Spiel man nicht genau durchschaut. Ich habe den Abend sehr interessant gefunden, aber ich bin trotzdem etwas enttäuscht. Das soll aber kein Vorwurf sein, eher eine Anregung, dass man vielleicht für Neue vorab eine kleine Einführung geben könnte. Aber fragt mich nicht wie."

Dieter sagte "Ich bin ja auch neu hier, und auch etwas verunsichert. Ich habe jetzt natürlich auch über Kunst nachgedacht. Ich glaube, ich hatte davor nicht so eine klare Vorstellung, dass ich jetzt sagen könnte, was sich daran verändert hat. Vom Dialog selbst habe ich jetzt eine ziemlich spezielle Vorstellung bekommen, ich glaube, das meinte ich mit 'verunsichert'. Ich habe den Abend auch sehr anregend gefunden, aber ich habe eigentlich das Gefühl, an einem Diskussionsabend über Kunst gewesen zu sein. Die Anmerkungen zum Dialog habe ich nicht so ganz verstanden, da fehlen mir vermutlich auch die Voraussetzungen."

Es blieb wieder eine zeitlang still, dann sagte Petra: "Mich würde schon noch interessieren, wie ihr diesen Dialog erlebt habt. War das für alte Hasen ein normaler Dialog?"


 
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Renate sagte rasch: "Bei uns muss niemand etwas sagen. Nur wer will, spricht. Fragen haben im Dialog keinen Aufforderungscharakter, niemand muss Antwort geben. Das ist ein sehr wichtiges Prinzip hier. Das gilt auch für diese Schlussrunde. Ich möchte aber die Idee aufgreifen, dass man vielleicht vor den Dialogen eine kleine Einführung für Neue machen könnte. Allerdings hat sich unser Dialog im Laufe kurzer Zeit so sehr verändert, so dass die Einführung, die ich noch vor einiger Zeit gegeben hätte, jetzt überhaupt nicht mehr stimmen würde. Und seit heute sehe ich wieder alles anders. Mehr noch als dieser Dialog hat sich offenbar meine Vorstellung über unseren Dialog verändert. Ich glaube, ich könnte jetzt gar nicht mehr so allgemein sagen, worum es hier geht. Ich glaube, jede sieht das etwas anders. Heute war ein spezieller Dialog, aber eigentlich ist der Dialog jedesmal speziell, man könnte also sagen, heute war es ganz normal, obwohl es noch nie so war wie heute. Wir sind nun schon seit einiger Zeit in dieser Galerie, wir haben aber noch nie über diesen Ort oder über die Bilder gesprochen."

Peter sagte: "Lass uns diese Checkoutrunde bei einem Bier führen, dann haben wir wirklich ausgecheckt. Wir gehen wie immer in den Vorbahnhof." An die Neuen gerichtet sagte er im Aufstehen: "Beim Bier kriegst ihr wie immer auf alles eine Antwort."

Hans sagte: "Für mich löste sich durch diese Check-out genannte Uebung immer der ganze Zauber, der über dem Dialog liegt auf. Aber vielleicht ist das ja der Sinn dieser Uebung, sozusagen wieder in die Realität zurückzukehren, in eine Realität am Stammtisch mit bekannten Antworten auf alle Fragen. Ich kome heute nicht mit, ich überlege mir lieber noch etwas, was es heissen könnte, im Alltag jede Aeusserung als Kunst zu verstehen. Ich habe beschlossen, es einfach mal zu versuchen. Und ich will meinen Beschluss nicht dadurch boykotieren, das ich jetzt zum Stammtisch komme. Ich finde ohnehin, wir könnten die Dialoge etwas länger und das Biertrinken etwas kürzer machen."

Maya, die auch aufgestanden war, sagte: "Das finde ich auch. Aber für heute bin ich schon draussen. Wer will, kann jetzt noch ein paar Minuten mit mir die Bilder anschauen, dann kommen wir auch noch kurz in den Vorbahnhof."


 
  ..


 

Ich begreife den Dialog als Praxis, die keiner Theorie oder Philosophie geschuldet ist. Der Dialog folgt nicht aus einer Auffassung, aber Auffassungen bestimmen den Dialog. Und so ist jeder Dialog durch die Vorstellungen der Teilnehmenden bestimmt. Im Dialog mache ich keinen Bezug auf etwas, was noch dahinter oder darüber, also jenseits des Dialoges liegen würde. Der Dialog konstituiert alles, was er vorausgesetzt hat, indem es in ihm zur Sprache kommt.

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suprise statt excapation: Ich erwarte nicht, dass der andere etwas oder sogar etwas bestimmtes sagt. Das scheint natürlich nicht sehr dialogisch, aber ich versuche auch das dialogisch zu formulieren. Ich könnte jetzt also die Regel aufstellen,
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Die Dialogveranstaltung sei dazu als geschützter Raum zu sehen, in welchem der Dialog geübt werden könne. Das Dialogverfahren sei eine Methode, in welcher die uns wichtigen Aspekte des Dialoges umgesetzt seien.

Ich beginne den Dialog, indem ich eine Regel einführe. Ich mache das aber nicht so, wie ich einem Anfänger die Regeln des Schachspiels erkläre, sondern ich sage, dass ich sehr gerne hätte, wenn alle Teilnehmenden ich-Formulierungen verwenden würden. Bei einfachen Spielen wie Schach sage ich, das Spiel hat Regeln und ich meine damit, dass sich die Spieler aktuell und nicht in ferner Zukunft mehr oder weniger an diese Regeln halten müssen. Im Dialog äussere einen Wunsch, weil Dialoge keine Regeln haben. Im selbstbezüglichen Sinne der im Wunsch implizierten Regel spreche ich über mich. Ich sage, dass ich "ich"-Formulierungen verwenden will und dass ich es gerne hätte, wenn die anderen Dialogteilnehmer das auch tun würden.

Als Dialogteilnehmer sage ich mit diesem Wunsch nichts darüber, was andere tun sollen oder müssen, sondern etwas darüber, was mir gefallen würde. Als Dialogteilnehmer wünsche ich mir nicht, das andere Teilnehmer meinen Wunsch befolgen, sondern dass ich mit anderen Menschen zusammentreffe, die von sich aus ich-Formulierungen verwenden. Wenn ich mir für den nächsten Tag schönes Wetter wünsche, wünsche ich ja auch nicht, dass jemand schönes Wetter macht, weil ich das gerne hätte, sondern ich wünsche, dass sich das schöne Wetter ereignen möge. Wer hört, dass ich schönes Wetter wünsche, hört etwas über mich. Ueber sich muss er dabei nichts hören. Im Dialog könnte er sich überlegen, ob er sich auch schönes Wetter wünscht. Ich nehme einen Wunsch nach schönen Wetter nicht als Wunsch wahr, den jemand zu erfüllen hätte.

Wenn ich im Dialog einen Wunsch äussere, den andere Teilnehmer erfüllen könnten, frage ich mich nicht, was das für die andern Dialogteilnehmer bedeutet oder bedeuten könnte. Ich drehe die Frage um: Was würde es für mich heissen, wenn ein anderer Dialogteilnehmer einen Wunsch äussert? Was, wenn beispielsweise ein anderer sagen würde, dass er gerne ich-Formulierungen hört oder gar wünscht, dass alle in ich-Formulierungen sprechen? Zunächst verstehe ich, dass er in ich-Form sprechen will und dass es ihm gefällt, wenn er ich-Aussagen zu hören bekommt. Dann überlege ich mir, was das für mich heisst. Sollte ich oder muss ich sogar so sprechen, wie es ihm gefällt? Nein, das muss ich nicht, mehr noch, das sollte ich nicht und im Dialog darf ich es nicht. Im Dialog spreche ich, wie es mir gefällt, was mir oft genug sehr schwer fällt.


 
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Aber als Veranstalter führe ich mit meinem Wunsch eine Regel ein. In dieser Veranstaltung sollen sich alle an diese Regel halten. Das mache ich explizit, indem ich auf die Differenz der Dialogveranstaltung hinweise. Dann führe ich eine zweite Regel ein, indem ich mir wünsche, dass sich in der Veranstaltung alle Dialogteilnehmer auch als Veranstalter verstehen. Als Veranstalter lege ich wert darauf, dass Regeln geachtet werden. Wenn jemand eine Dialogregel verletzt, wiederhole ich den Wunsch, der die verletzte Regel impliziert. Wenn jemand anstelle einer ich-Formulierung ein "man" verwendet, sage ich, dass ich sehr gerne hätte, wenn alle Teilnehmenden ausschliesslich ich-Formulierungen verwenden würden. Das sage ich nicht jedesmal, denn ich bin mir bewusst, dass ein "man" sehr gut für ein "ich" stehen kann. Aber ich es sage eher mehr als nötig, und wenn ich es sage, hänge ich meistens auch meinen zweiten Wunsch an, wonach jeder als Veranstalter darauf achten sollte, inwiefern die Regeln eingehalten werden. Ich sage, dass es mir nicht gefällt, wenn immer ich Mahnungen aussprechen muss, dass ich es lieber hätte, wenn alle diese Verantwortung übernehmen würden.

Ich sebst verletze die Regeln sehr oft, weil ich mich in irgendwelchen Inhalten verliere. Dann helfen mir andere Veranstaltungsteinehmer, indem sie mich an die Regeln erinnern. Wenn ich beispielsweise die ich-Regel verletzt habe, bin ich froh, wenn ich das realisiere. Oft gelingt es mir selbst, dann kann ich meinen Beitrag bedenken und je nachdem neu formulieren, was nicht immer ohne weiteres geht. Es kann aber auch sein, dass ich selbst meine Regeverletzung nicht merke, weil ich über der vermeintlichen Wichtigkeit der Sache, von der ich spreche, die Form vergesse. Wenn ich in einem solchen Fall dann höre, dass ein Teilnehmer den Wunsch äussert, ich-Formulierungen zu hören, irritiert mich zunächst, dass nicht etwas über die mir so wichtige Sache gesagt wird. Dann merke ich, dass ich in der Dialogveranstaltung bin. Wenn mir das gelingt, wenn ich mich mit Hilfe der andern wieder fassen kann, kann ich auch wahrnehmen, dass der andere mit seinem Wunsch über sich spricht. Genau genommen muss ich gar nie annehmen, dass sich eine Wiederholung einer Regel, die ich gerade verletzt habe, auf mich bezieht. Im Dialog werde ich nie kritisiert oder bewertet. Aber ich kriege im Practise der Veranstaltung immer wieder die Chance, mich nochmals zu fragen, ob mir meine Formulierungen wirklich gefallen.


 
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Im Dialogpractise haben die Regeln eine doppelte Funktion. Einerseits erlauben sie, dass ich mit Hilfe der anderen realisieren kann, wo ich meinen gewählten Weg verlassen habe. Andrerseits beschreiben die Regeln, was ich als Dialog praktiziere. Mit der Menge der Regeln beschreibe ich den mir bewussten Aspekt des Dialoges. Sie sind das, was ich über den Dialog sagen kann. Wenn ich erklären muss, was Schach ist, zähle ich die Regeln auf. Die Regeln sagen aber nicht, wie ein Schachspiel verläuft, sondern worauf bei Spielen geachtet wird. Die Dialogregeln sagen nichts darüber, was im Dialog zu Sprache kommt, aber sie beschreiben operativ, was ein Dialog ist. Ich erzähle meine Regeln also nicht mit einem Anspruch korrigiert zu werden, sondern als Beitrag zur kollaborativen Sammlung der Regeln, die mein Verständnis des Dialoges repräsentieren. Die Regeln ermöglichen es, mir vorzustellen, wie ich im Dialog sprechen will. Anhand der Regeln kann ich mir auch überlegen, wann oder warum ich aktuell noch nicht immer so spreche. Die Regeln zeigen mir, welchen Weg ich vor mir habe, bis alle Regeln aufgehoben sind.

Weil ich anhand der Regeln mein Dialogbewusstsein entwickle, ist mein erster Wunsch im Dialogpractise natürlich, dass alle ihre Regeln explizit machen. Das erlaubt einerseits allen, einander mahnen zu können, ohne den je andern zu sagen, was richtig wäre. Meine Ermahnungen beziehen sich nicht darauf, was man im Dialog sagen müsste, sondern darauf, dass ich Abweichungen von Regeln wahrnehme, an welche sich jemand von sich aus halten will. Andrerseits beschreiben die Regeln, was ich als Dialog praktiziere.

Es ist in der Dialogveranstaltung nicht wichtig, dass sich alle an dieselben Regeln halten. Im Gegenteil, im Dialog strebe ich nicht nach einem Monolog über den Dialog in dem Sinne, dass es richtige und falsche Regeln gibt. Ich kenne überdies eine Reihe von Regeln, die ich uneingeschränkt sinnvoll finde, die ich aber immer noch nicht erfüllen kann. Und anfänglich waren mir auch die einfachsten Regeln zu kompliziert, weil ich nicht gewohnt war, mein Reden nach Regeln zu beobachten. Wenn andere Dialogteilnehmer ihre eigene Regel verletzen, kann ich sie mahnen, vor allem aber mache ich mir Gedanken darüber, warum ich in dieser Situation meine Regeln verletzen würde. Im Unterschied zu primitiven Spielen, wo ich mir mit nicht entdeckten Regelverletzungen Vorteile verschaffen kann, verliere im Dialog vor allem ich, wenn ich mich nicht an meine Regeln halte.


 
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Meiner Erfahrung nach verwendet in den Dialogveranstaltungen niemand zufällig ausgedachte Regeln wie etwa, dass alle Sätze, die er sagt, mit einem "M" beginnen sollen. Aber als Uebung würde ich das keineswegs ausschliessen. Die klassischen Versformen der Epik, etwa der Hexameter, kann ich durchaus als Folge von Regeln verstehen, die dem Inhalt wie die ich-Formulierung eine bewusste Form geben. Ein Versmass zwingt mich nicht, das, was ich sagen will, nochmals zu bedenken, es verlangt lediglich, dass ich es bewusst formuliere. Auch durch die Dialogregeln beobachte ich nicht, was ich sage, sondern wie ich es sage. Die Regeln sorgen aber dafür, dass ich nicht beliebiges sagen, also schwatzen kann. Das Versmass bedeutet für mich keine Restriktionen bezüglich der Inhalte. Viele Dialogregeln dagegen schränken mich inhaltlich ein. In einer eigentlichen ich-Formulierung kann ich eben nichts über andere Menschen sagen, sondern nur darüber sprechen, wie ich diese wahrnehme

In den Dialogveranstaltungen höre ich oft auch Regeln, die ein simples Spiel beschreiben, weil es Regeln sind, an welche man sich aus gesellschaftliche Gründen halten muss. So gibt es eine Regel, die besagt, dass man andere Redner nicht unterbrechen soll. Im Dialog kommt es aber meiner Erfahrung nach nicht vor, dass jemand einen anderen Dialogteilnehmer unterbricht. Viel typischer sind längere Pausen zwischen Wortmeldungen, in welchen ich Achtsamkeit spüre und auch achtsam bin, niemandem das Wort wegzunehmen. Man könnte sagen, dass die Regel, niemanden zu unterbrechen im Dialog bereits aufgehoben, also nicht mehr nötig ist, ich kann mir aber gar keinen Dialog vorstellen, in welchem sie noch nötig wäre. Dagegen habe ich in Dialogveranstaltungen schon einige Male andere Menschen unterbrochen, wenn ich das Gefühl hatte, sie hätten das Veranstaltungsprinzip nicht verstanden. Ich sage dann, dass ich über mich spreche und dass ich glaube, dass sie den Dialog und die Veranstaltung falsch verstanden haben. Dazu muss ich im Dialog nicht warten, bis jemand ausgesprochen hat. Ich sage es, wenn es mir wichtig ist.

Die Regel, andere nicht zu unterbrechen, sagt mir auch nichts darüber, welche Formulierungen sinnvoll sind. Sie ist nicht auf die Worte bezogen, in welchen ich mich - dia logos - erkenne, sondern auf das Verhalten von Dialogteilnehmern. Ich habe schon mehrere Veranstaltungen besucht, in welchen solche Regeln einen hohen Stellenwert haben. Ich will zwei Beispiele nennen, in welchen solche Verhaltensregeln materialisiert sind. Ich war schon an Veranstaltungen, in welchen ein Sprechersymbol, etwa ein schöner Stein oder ein glänzender Stab in die Mitte des Kreises gelegt wurde. Wenn jemand etwas sagen wollte, holte er dieses Symbol für Sprecherlaubnis und legte es, nachdem er gesprochen hatte, wieder in die Mitte. Das Sprechsymbol verhindert, dass zwei Teilnehmer gleichzeitig sprechen und es verlangsamt den Prozess, weil immer etwas Zeit vergeht, bis das Symbol zu einem andern Sprecher gewechselt hat. Ein anderes Instrument ist eine Klangschale oder ein Gong. Wenn das Gespräch hitzig wird und die Regel, andere nicht zu unterbrechen, schwierig einhaltbar wird, weil alle um das Wort wetteifern, kann jemand das Instrument anschlagen und alle müssen mit weiteren Wortmeldungen warten, bis der Klang ausgeschwungen ist. Das mag zehn Sekunden dauern, was in einer hitzigen Phase als sehr lange empfunden werden kann. Diese Pause genügt meiner Erfahrung nach, dass sich alle wieder auf den Sinn der Veranstaltung besinnen. Ich finde solche Spielregeln etwas kindisch und sie sind meiner Erfahrung nach überhaupt nicht nötig, weil der Dialog genau das leistet, was mit diesen Verhaltensregeln auf anderem Wege erzwungen wird. Solche Verhaltensregeln sind Krücken, die in schwierigen Umständen einen Sinn haben mögen. Sie signalisieren immerhin die Veranstaltung und und etwas von der Differenz, die in der Dialogveranstaltung gemeint ist. Nicht zuletzt solche Mittel führten aber bei mir anfänglich zu einer etwas instrumentellen Methodenauffassung. Aber natürlich mögen andere Menschen damit ganz andere Erfahrungen machen. Es ist eine Frage des Probierens.


 
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Inhalte als Form

Ich werde in Dialogveranstaltungen oft mit einer eigenartigen Frage konfrontiert: Ein Teilnehmer sagt etwa: "Ok. Das mit den Regeln habe ich alles verstanden. Aber was soll ich jetzt sagen? Worüber wollen wir sprechen oder einen Dialog führen? Oder wollen wir die ganze Zeit über Regeln sprechen?"

Als Dialogteilnehmer muss ich auf Fragen natürlich nicht antworten. Ein Dialog ist kein Verhör. Als Dialogteilnehmer frage ich mich angesichts dieser Frage, in welchen Situationen ich selbst wohl andere fragen würde, was ich sagen soll. Dabei wird mir oft erneut bewusst, dass das Eigenartige der Frage wohl in einer Einladung zu einem Dialog liegt, der sich dann als Veranstaltung mit Regeln entpuppt. Als Veranstalter antworte ich auf die Frage auch nicht, sondern führe weitere Regeln ein. Davor sage ich aber, dass ich gerne als Dialogteilnehmer gesehen würde, nicht als Veranstalter oder gar als Moderator. Dann wünsche ich mir im Sinne einer weiteren Regel, das keine Fragen an andere Dialogteilnehmer gerichtet werden. Ich sage, dass ich nicht mehr als Veranstalter spreche, sondern als Teilnehmer sage, welche Regeln ich in einen Dialog sinnvoll finde.

Mit diesem Antrag schaffte ich bisher in Dialogrunden immer Konfusion, die sich darin zeigt, dass mehrer Teilnehmer gleichzeitig sprechen und viele auf ich-Formulierungen verzichten und statt dessen sagen, was ein Dialog ist. Aus diesem Durcheinandergerede entnehme ich, dass die Regel, andere nichts zu fragen, vielen Dialogauffassungen ganz zentral widerspricht. Die ich-Formulierungsregel haben die Teilnehmer in meinen Veranstaltung bisher immer sehr leicht akzeptiert, unabhängig davon, wie vielen es nicht leicht gefallen ist, sich daran zu halten. Aber dass man in einem Dialog keine Fragen stellen soll, scheint zunächst vielen undenkbar. Ich brauche dann Disziplin, um mich in der Konfusion nicht mitreissen zu lassen. Am einfachsten gelingt mir das, wenn ich schweige. Ich weiss selbst, dass ich lange Zeit den "sokratischen Dialog", in welchem Sokrates nur Fragen stellt, für einen typischen Dialog gehalten habe. Wenn ich nun höre, dass ein Dialog geradezu auf Fragen beruht, kann ich das in dem Sinne ver-stehen, als ich selbst leicht in diese Position stehen kann, weil ich ja lange Zeit so gedacht habe. Und vor allem aber kann ich nichts dagegen sagen, denn dazu müsste ich ja wissen, was ein Dialog wirklich ist.


 
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Manchmal mahnte einer der Teilnehmenden dann doch die ich-Regel oder die ist durch die Unruhe gestört. Das führt normalerweise wie ein Anschlagen einer Klangschale dazu, dass alle ruhig werden. Aber auch ohne explizite Mahnung realisierten die Teilnehmenden meistens sehr rasch, dass Schweigen und warten im Dialog viel helfen kann. Ein typischer Ausgang aus der Konfusion besteht darin, dass jemand nachdem es ruhig geworden ist, nochmals frägt, ob er das jetzt richtig verstanden habe, ob man im Dialog wirklich keine Fragen stellen dürfe.

Ich spreche dann wieder in Bezug auf die Veranstaltung und antwortete: "Wenn ich jetzt nicht in einem Dialog wäre, würde ich fragen, ob das nicht eine Frage sei, ich würde also eine Frage mit einer Frage beantworten. Das gilt gemeinhin als unanständig. Ich finde nicht jede Frage unanständig, aber ich finde es sehr schwierig zu beurteilen, welche Fragen unanständig sind und würde deshalb lieber möglichst auf alle Fragen verzichten. Ich schlage vor, das Dialogspiel einmal so, also ohne Fragen zu versuchen, probehalber. Man kann die Veranstaltung auch als Experimentierraum verstehen und untersuchen, was wie geht.

Manchmal werde ich dann noch gefragt, ob man wenigstens Verständnisfragen stellen dürfe. Dann warte ich wieder lange, damit auch diese Frage als Frage wahrgenommen werden kann. Wenn ich in einem Dialog frage, ob ich etwas bestimmtes machen oder sagen dürfe, ist es für mich, wie wenn ich diesebe Frage im Gebet an Gott richten würde. Ich weiss dann, dass die Antwort nur in mir liegen kann. In der Dialogveranstaltung sage ich, dass mir alle Fragen Verständnisfragen zu sein scheinen und dass ich gleichzeitig ganz viele Fragen gar nicht als Bemühung um ein Verständnis wahrnehmen könne. Hinter vielen Verständnisfragen erkenne ich das Bemühen, dass der Gefragte etwas verstehen sollte. Bei Sokrates, von welchem ich allerdings nur aus zweiter Hand etwas weiss, war das das Prinzip. Sokrates fragt, damit der Gefragte etwas begriff. Es könnte sein, dass Sokrates erfunden wurde, weil diejenigen, die die sokratischen Dialoge erfunden haben, diese Inversion nicht in ihrem eigenen Name vortragen wollten. Verständnisfragen sind Lügen, wenn sie das Interesse am Verstehen vorgeben." Es ist diese Art zu lügen, die ich in allen Rhetorikkursen geschult wurde.

Man kann dieses Fragespiel ganz ausreizen und fragen, ob man wenigsten fragen dürfe, wenn man etwas akustisch nicht verstanden habe. Dann sage ich, dass ich jede Frage für zulässig halte und auch stelle, wenn ich es nötig finde.


 
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Ueber kurz oder lang taucht dann die unbeantwortete Frage wieder auf: Worüber sprechen wir in diesem Dialog? Ich gebe noch ein Regel. Im Dialog kann ich nicht sagen, worüber wir sprechen. Ich kann den andern keine Vorschriften machen, jeder sagt, was er sagt. Ich kann natürlich ein Thema vorschlagen, indem ich über eine bestimmte Sache spreche, die für die andern auch interessant ist. Aber das mache ich ja subjektiv ohnehin, das heisst, ich spreche immer über etwas, was die andern auch interessieren könnte. Mit der Frage, worüber wir sprechen, habe ich aber im Dialog noch einen anderen Umgang. Im Dialog beobachte ich, worüber gesprochen wird. Darin erkenne ich einen zentralen Aspekt des Dialoges. Ich bestimme nicht, was wichtig ist und deshalb besprochen werden muss, sondern ich beobachte, was gesprochen wird und erkenne so, was wichtig ist.

In einer Dialogrunde, an die ich mich gut erinnern kann, sprach eine Frau darüber, dass in Italien in den Restaurants nicht mehr geraucht werden darf, und dass sie das ganz toll findet und das in der Schweiz eigentlich auch haben möchte. Jemand sagte dazu, dass er Verbote nicht als geeignetes Mittel betrachte, dass es besser wäre, man würde einvernehmliche Lösungen finden, beispielsweise Restaurants für Raucher und solche für Nichtraucher. Damit schien ein Thema angezogen, aber eine nächsten Wortmeldungen war, dass sich jemand immer eigenartig irritiert fühle, wen er als Nichtracucher bezeichnet werde. Er rauche nicht, aber er verstehe nicht, wieso er dann trotzdem über das Rauchen kategoriesiert werde. Es schien mir zunächst, dass das ein Beitrag zum Dialog über das Rauchen sei, aber diesem Dialogteilnehmer war offenbar ein anderes Problem das Rauchen wichtiger. Und die Dialogrunde folgte diesem Anliegen über Zuschreibungen und wie diese zustande kommen und vergass darüber das Rauchen. Ich werde später noch einmal auf das Beispiel zurückkommen.

Man könnte sagen, dass der Dialog keinen Inhalt hat, sondern eine Form. Ich spreche im Dialog in einer bewusst gewählten Form. Und indem ich in der Dialogveranstaltung diese Form thematisiere, wird diese Form zu Inhalt. Wenn ich in Dialogveranstaltungen die Regel einführe, dass keine Fragen an andere Perseonen gestellt werden, geht es mir um die Form des Dialoges, aber ich sage dabei etwas über Fragen, was ich als Inhalt des Dialoges verstehe. Ich höre dann beispielsweise oft die Frage, was es mit Fragen auf sich hat, aber dabei höre ich immer auch die Frage, wie wir uns einen Dialog und eine Dialogveranstaltung vorstellen.


 
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Ich mag es nicht, wenn Fragen an mich gerichtet werden. Ich fühle mich durch Fragen, auch durch banale Fragen, zur Verantwortung gezogen. Wenn ich gefragt werde, muss ich Antwort geben oder unhöflich sein. Fragen assoziere ich mit Autoritäten und Kreuzverhör. Ich kenne aber auch einen sanften Ausweg aus dem Dilemma. Ich relativiere die Regel mit einem weiteren Vorschlag, wonach eine bestimmte Frage erlaubt ist, nämlich die Frage, die ich explizit an mich selbst richte. Ich sage beispielsweise im Dialog, dass ich schon lange über dieses oder jenes nachgedacht habe und einfach nicht erkennen kann, wie ich den Sachverhalt erklären könnte. Dabei spreche ich über mich und davon, dass mich bestimmte Fragen plagen. Ich richte meine Frage nicht an andere Menschen, sondern ich erzähle, dass ich Fragen habe. Ich plage also nicht andere, sondern berichte darüber, was mich plagt. Wenn jemand etwas zu diesem Thema sagen will, wird er es im Dialog dann vielleicht tun. In einer Dialogrunde sagen dann vielleicht mehrere Teilnehmer etwas dazu, so dass ich ganz viele und ganz verschiedenen Denkmöglichkeiten kennenlerne, die mir noch nicht eingefallen sind.

Natürlich kann auch die Frage, die ich pro forma an mich selbst richte, eine Pseudofrage sein. Ob meine Frage echt oder ein Vehikel ist, weiss nur ich. Aber ich muss auch selbst damit leben. Umgekehrt überlege ich mir im Dialog nicht, ob eine Frage, die jemand an sich selbst richtet, eine Pseudofrage ist. Ich überlege mir, ob und unter welchen Umständen mich die Frage, die ich höre, interessiert, und was ich zu diesem Thema sagen könnte. Ich beantworte aber keinesfalls die Frage, den sie ist nicht an mich gerichtet. Ich erzähle allenfalls von mir, von meinen Gedanken und Erfahrungen. Darin sehe ich eine weitere Regel, deren Einhaltung nur ich und nur für mich beobachten kann. Die Regel heisst, dass ich nie Fragen von anderen Teilnehmenden beantworte. Fragen, die ich mir selbst stelle, kann ich tautologischerweise nicht beantworten. Ich kann aber eine oder mehrere Antworten erwägen und auch das berichten.


 
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Eine Erfahrung, die mich im Dialog immer wieder fasziniert, ist folgende. Wenn ich über die Dialogteilnehmer schon etwas weiss, beispielsweise was sie arbeiten oder welche Länder sie schon bereist haben, neige ich dazu, bestimmte Fragen an bestimmte Personen zu richten. Das heisst, ich neige zur Annahme, von Menschen, die ich als Experten für etwa erachtet, bessere Antworten zu bekommen, als von anderen Menschen. Im Dialog darf ich aber meine Frage nicht an jemanden richten, also spreche ich in die Mitte der Dialogrunde. Dabei passiert es immer wieder, dass ich für mein Problem von Personen eine Lösung bekomme, die ich niemals gefragt hätte, während ich von den von mir als Experten erachteten Personen oft nichts höre, was mich weiter bringt. Ich war vor einiger Zeit einmal in einer Dialogrunde, in welcher auch zwei Zahnärzte dabei waren. Jemand erzählte von einem Problem mit seinen Zähnen, bei welchem ihm sein eigener Zahnarzt, der schon alles abgeklärt habe, nicht helfen könne. Beide Zahnärzte fühlten sich vielleicht etwas betroffen, denn beide sagten etwas zu dieser Geschichte, obwohl sie auch keinen brauchbaren Rat wussten. Dann sagte eine Möbelschreinerin, dass ihr Bruder vermutlich das gleiche Problem mit seinen Zähnen gehabt habe, und mit einen Spezialisten eine Lösung dafür gefunden habe. Ich merkte, dass ich mit Zahnproblemen kaum eine Schreinerin um Rat fragen würde. Wenn viele Menschen da sind, schränke ich den Bereich von Antworten ganz unnötig ein, wenn ich eine bestimmte Person frage. Mir ist dabei nicht entgangen, dass von einem Spezialisten die Rede war, also dass nicht ein Möbelschreiner das Zahnproblem gelöst hatte. Aber in unserem Dialog ging es eben nicht das Zahnproblem, sondern um das Problem, jemanden zu finden, der helfen kann. Auf die Problemspezifikation werde ih später noch genauer eingehen. Hier geht es mir vorerst nur darum zu zeigen, dass man viel gewinnen kann, wenn man seine Fragen nicht an eine Person, sondern an viele richtet, indem ma sie an niemanden richtet.

Die Regel, keine Fragen an jemanden zu richten, kann man etwas allgemeiner fassen. Im Dialog spreche ich nie eine bestimmte Person an, ich spreche immer in die Mitte des Dialogkreises. Wenn ich in die Mitte spreche, spreche ich zu handen von allen. Ich bevorzuge niemanden und ich bedränge niemanden. Jeder kann darauf reagieren, wenn er es will, und niemand muss darauf reagieren, wenn er es nicht will. Wenn ich im Dialog bin, höre ich zu. Ich höre, was gesagt wird, ohne dass ich persönlich angesprochen werde. Ich überlege mir zu allem, was ich höre, ob und was ich dazu zu sagen hätte. Vor allem überlege ich mir, ob oder wann ich das Gehörte auch sagen würde.


 
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Meiner Erfahrung nach wird die Regel, wonach man in die Mitte sprechen soll in Dialogveranstaltungen ebenso leicht akzeptiert wie die Regel, die ich-Formulierungen verlangt. Wenn ich in die Mitte spreche und nur Beiträge höre, die in die Mitte gesprochen werden, stellt sich das Problem mit den an Personen gerichtenen Fragen gar nicht. Ich nehme aber trotzdem oft Verständnisfragen wahr. Allerdings ist das eben meine Wahrnehmung. Wenn ich weiss, dass im Dialog immer in die Mitte gesprochen wird, müsste ich mich durch Formulierungen, die als Verständnisfragen erscheinen, nicht irritieren lassen. In der Dialogveranstaltung übe ich aber nicht hinter die Formulierungen zu sehen, sondern vor allem bewusst Formulierungen zu wählen. Wenn ich im Dialog jemaden sagen höre: " Wie meinst Du das genau?", könnte ich realisieren, dass es sich nicht um eine Verständnisfrage handelt, sondern nur Ausdruck eines Unverständnisses ist. Er braucht aber in solchen Situationen eine hohe Disziplin, mir bewusst zu bleiben, dass die Frage nicht als Frage gemeint ist, und ich brauche eine noch grössere Disziplin, um auf solche scheinbaren Verständnisfragen zu meinen eigenen Beiträgen nicht zu antworten. Fragenhypnotisieren mich oft wie die Schlange das Kaninchen.

In der Dialogveranstaltung verwende ich Regeln zur Formulierung, nicht Regeln zur Interpretation der Formulierungen. Deshalb wünsche ich, dass ich die Frage "Wie meinst Du das genau" gar nicht hören muss. Das erspart mir die Interpretation, dass mit diesem Satz keine Frage gemeint ist. Natürlich könnte man eine Regel vereinbaren, nach welcher Verständnisfragen nicht als solche interpretiert werden. Genau darin zeichnet sich meines Erachtens ab, dass Dialoge gar keine Regeln brauchen. Ich brauche Regeln, nicht der Dialog. Für mich wird der Dialog einfacher, wenn ich ein paar Regeln beachten kann.


 
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Explikation

Die Regeln lassen sich als Explikation vom Regelmässigen sehen, so wie naturwissenschaftliche Gesetze Die Steine falen immer und dazu mache ich eine Regel, die sagt, die Steine fallen immer.

Differenz zwischen Regel/Gesetz
Anhang

Den Begriff "Protokoll" verwende ich einerseits für eine Abbildung eines Prozesses und andrerseits für das, was den Prozess steuert. Franklin sagte, der Mensch sei ein werkzeugmachendes Tier; Jonas sagte, der Mensch sei ein abbildungmachendes Tier; ich kann entwickelte Werkzeuge wie Programme und Protokolle als Abbildungen lesen. Die Internetprotokolle sind Computerprogramme und mithin - was viele Menschen nicht gerne sehen - physisch hergestellte Werkzeuge, die beschreiben, was im Internet technologisch gesehen passiert. Programm heisst sowohl das Programm(heft) im Zirkus als auch das (Computer)programm. Protokolle gibts sowohl auf der höfisch-politischen Bühne und in der (Spiess-)bürgerlichen Sitzung als auch zur Bestimmung von Computerschnittstellen, die der remote-Steuerung, etwa eines Druckers, dienen. Protokoll heisst ein Text, in welchem steht, welcher Diplomat wann vor welchem Kotau leisten muss, und die selbstreferentielle Beschreibung davon, welche Signale in einem Computer welche Signale in einem andern Computer auslösen. Das Internet besteht aus einer Menge von Artefakten, die sich an die Internetprotokolle halten. Viele dieser Artefakte, wie etwa der PC und das Tele-(graph/fon)-system (1), sind älter als das Internet und wurden unabhängig vom Internet und dessen protokollarischen Vorgaben konstruiert. In den Protokollen steht deshalb weitgehend, was bereits davor der Fall war, das Internet ist eine im Nachhinein institutionalisierte Sicht (2) auf Artefakte, die zunächst ganz andere Zwecke erfüllten. In diesem Sinne kann man sagen, dass das Internet kein intentional hergestelltes Produkt ist, sondern nur existiert, weil wir es als solches betrachten und verwenden (3). In diesem Sinne ist das Internet ein sekundäres Produkt, dessen Gegenstandsbedeutung und mithin unterstellte Herstellungsintention sich - wie beim Instrument der Steelband, das davor ein Oelfass war - aus dem Gebrauch ergeben.

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Eva schlug zaghaft auf den Gong. Sie setzt sich wieder und sagte: "Es tut mir leid, aber ich dachte, wir wollten über unserer Initiative sprechen. Dann gab es eine Wortmeldung, jetzt weiss ich gar nicht mehr von ... ich glaube, von Dir. Egal, eine Wortmeldung über das Moderieren, also auf einer Metaebene, und jetzt sind wir an einem ganz anderen Ort angelangt. Ich glaube, ich habe den Faden verloren ..."

Peter sagte: "Ja, das ist hier ja die Absicht. Wir haben wollen ja kein Thema."

Eva sagte: "Ich habe das anders in erinnerung. Vielleicht ein Missverständnis, das wir untersuchen sollten. Ich dachte, wir hätten herausgefunden, dass wir immer dasselbe Thema haben, nämlich wie jetzt schon wieder, den Dialog und dass wir versuchen wollten, einmal über etwas anderes zu sprechen.

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Fussnoten

(1) Ich setze einige Begriffe kursiv, die ich in in einem Hypertext als Links auf Explikationen in einem Hyper-Lexikon ausprägen würde. Damit verbunden ist die Vorstellung, dass sich solche Explikationen ganz selten mit dem intuitiven Verständnis dieser Begriffe decken würden. Vergl. dazu Todesco 1995

(2) Perturbation ist ein Terminus im Radikalen Konstruktivismus. Er steht für Störungen, die eine Kompensationshandlungen auslösen, wobei gleichgültig ist, ob die "Störung" positiv oder negativ erlebt wird.

(3) http://www.weiterbildung.unizh.ch


 

Literatur

  • Bohm, David (1998): Der Dialog. Stuttgart, Klett Kotta
  • Flusser, Vilém (1998): Kommunikologie. Frankfurt/M, Fischer (Taschenbuch 13389)
  • Schmidt, Siegfried J. (1987): Der Radikale Konstruktivismus: Ein neues Paradigma im interdisziplinären Diskurs. In: Schmidt, Siegfried J.: Der Diskurs des Radikalen Konstruktivismus. Frankfurt/M., Suhrkamp (stw 636), 11-88
  • Todesco, Rolf (1998a): Genetische Wissenschaftsgeschichte, Kollaboratives Lernen und Hyperkommunikation. In: Ethik und Sozialwissenschaften, Streitforum für Erwägungskultur, Westdeutscher Verlag Wiesbaden, EuS 9 (Heft 4), S. 573 ff
  • Todesco, Rolf (1998b): Effiziente Informationseinheiten im Hypertext. In: Storrer, Angelika / Harriehausen, Bettina (Hrsg.): Hypermedia für Lexikon und Grammatik, Gunter Narr, Tübingen, S. 265-275 (http://www.hyperkommunikation.ch/todesco/publikationen/
    T_narr.htm)
  • Todesco, Rolf (1995): Schränkt Hypertext die Sprache ein? In: OBST Osnabrücker Beiträge zur Sprachtheorie, Oldenburg, Heft 50, S. 165-176 (http://www.hyperkommunikation.ch/todesco/publikationen/
    T_obst.htm)
  • Todesco, Rolf (1992): Technische Intelligenz oder Wie Ingenieure über Computer sprechen. Stuttgart, Frommann-Holzboog.

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    Ueber den Autor

    http://www.hyperkommunikation.ch/todesco/
    Rolf Todesco moderiert systemische Lernveranstaltungen an der Fachstelle für Weiterbildung der Universität Zürich